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Jazzzeitung

2013/01  ::: seite 22-23

geschichte

 

Inhalt 2013/01

Inhaltsverzeichnis

Sternlein STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene /Jazz-ABC: Massimo Urbani no chaser: Projektwolken

Sternlein TITELSTORY: Raus aus der Talsohle?
Zur Jazzförderung in Bayern

Sternlein GESCHICHTE -
Daddy Plays the Horn
Gedanken zum 90. Geburtstag des Saxophonisten Dexter Gordon (1)

Sternlein DOSSIER/Jazzförderung -
Volle Fahrt voraus
Die Perspektiven der LAG Jazz in Bayern e.V. nach ihrem Vorstandswechsel
Jazz als Kulturgut begreifen
BR-Jazz-Redakteurin Beate Sampson im Gespräch über Jazzförderung
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John Coltranes Solo über „Giant Steps“

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Daddy Plays the Horn

Gedanken zum 90. Geburtstag des Saxophonisten Dexter Gordon (1)

„Ich höre seinen Sound in meinem Kopf, wenn ich spiele. Ich kann ihn auch nicht aus meinem Herzen bekommen, will das auch gar nicht. Ich war nur eine Randerscheinung seines Lebens, stand ihm nie nahe. Und doch beeinflusste er mich irgendwie mehr als mein Vater, mehr als Musiker, die ich 100-mal besser kannte.“ – Worte der Ausnahmepianistin Jessica Williams, die sicherlich viele teilen.

Dexter Gordon. Foto: Michael Scheiner

Dexter Gordon. Foto: Michael Scheiner

Dexter Gordon ist ja nicht nur eine beliebte Jazz- und Filmlegende. Er übt heute noch einen starken Einfluss aus. Dieser erstreckt sich nicht nur auf jüngere boppige Saxophonisten vom Schlage eines Grant Stewart, Eric Alexander oder Roman Schwaller, sondern direkt oder indirekt auf die meis-ten nachgeborenen Saxophonisten, aber eben nicht nur diese. Der sensible Hüne war der erste Tenorsaxophonist der Moderne. Als musikgeschichtliches Bindeglied zwischen verschiedenen Schulen, als Knotenpunkt, in dem frühere Traditionsstränge mündeten und von dem neue, in unterschiedliche Richtung führende Straßen ausgingen, war „Long Tall Dexter“ eine singuläre Erscheinung: Er versöhnte in der Bebop-Ära in seiner Spielweise die widersprüchlichen Auffassungen der beiden führenden Tenoristen der Swing-Ära – Coleman Hawkins und Lester Young –, übertrug die Innovationen des genialen Bebop-Altisten Charlie Parker auf das Tenor und ebnete den gro-ßen stilbildenden Tenoristen der Moderne und Avantgarde den Weg: Vor allem John Coltrane, aber auch Sonny Rollins und sogar Stan Getz, also die einflussreichsten Tenoristen der 50er- und 60er-Jahre, wurden von Dexter Gordon geprägt.

In der Isolation

Bei aller Einigkeit, die jenseits aller stilistischen Lager über das hohe Niveau seiner Musik besteht, so entspricht Dexter Gordons Persönlichkeit und Lebensweg so sehr dem Bild eines Einzelgängers, dass man erst mit dem zweiten oder dritten Blick dieses wichtige, da geschichtsträchtige Beziehungsgeflecht überhaupt wahrnimmt. Vermutlich besteht bei vielen Jazzfreunden sogar die Neigung, ihn eher isoliert wahrzunehmen, als Einzelerscheinung, die man nicht zwangsläufig sofort mit Anderen in Beziehung setzt. Mit welcher bestimmten Persönlichkeit oder Band sollte man ihn auch fest assoziieren? Denkt man an Charlie Parker, gesellt man im Geist Dizzy Gillespie hinzu (obwohl sie relativ selten gemeinsam musizierten). Fällt der Name Dave Brubeck, dann auch bald der seines langjährigen Spielgefährten Paul Desmond. Duke Ellington kann man sich gar nicht ohne ein ganzes Orchester vorstellen. Bei Art Blakey rattert der Jazzfan ganze Besetzungslisten herunter. Selbst die Erwähnung des einsamen Miles Davis ruft Seelenpartner wie John Coltrane oder Gil Evans hervor. Doch bei Dexter?

Mit großem Atem

Natürlich hat er mit anderen Musikern musiziert und ist dabei immer dem Wesen des Jazz als kommunikativster Musik des 20. Jahrhunderts auf großartige Weise gerecht geworden. Seinem Wesen nach war er aber mehr der Erzähler mit dem großem Atem als Gesprächspartner. Deswegen hat es die fixe Bindung an bestimmte Musikerpersönlichkeiten nur selten in seiner Laufbahn gegeben. Es kam zum Beispiel dann dazu, wenn dieser auch „Bebop-Tenor“ sprach, also sich in der vor allem von Dexter selbst im Jazz etablierten Sprache ausdrückte. War das Gespräch dann nicht auch ein Stückchen weit wie ein Selbstgespräch? Dexter hat immer wieder – wie wir in dieser Sammlung nachhören können – die Begegnung mit anderen Bop-Tenoristen gesucht. Das Team mit dem kongenialen Wardell Gray war sogar dauerhaft. Sie teilten eine gemeinsame Sprache in dem Maße, dass sie beim Hören der Aufnahmen manchmal Schwierigkeiten hatten, sich selbst zu erkennen. Dexters meist auf Konzerte oder Platten beschränkte Begegnungen mit anderen Tenoristen haben etwas von Besuchen eines freundlichen Riesen, der kurzzeitig seine Höhle verlässt, weil er ab und zu wieder Gesellen des eigenen Schlages sehen will.

Ewiger Einzelgänger

Dexter Gordon ist der ewige Einzelgänger, der einsam seine Geschichten auf dem Horn erzählt, im Idealfall in einer Ballade, die man schon zu kennen vermeint, aber erst dann wirklich kennt, wenn man Zeuge war, wie er sie zehn (wie im Fluge vergehende) Minuten ausgelotet hat. Wer würde da ein zweites Horn vermissen? Art Lange hat es auf den Punkt gebracht: „Dexter was in many ways an orchestra unto himself, larger than life, and not the kind, who needed another horn to add color, contrast or ballast.“ Die typische Besetzung für ihn war denn auch die Begleitung durch ein Piano-Trio.

Dexter Gordon ist der große Individualist, der gegen den Strom der Zeit schwimmt, der unbeirrbar Bebop spielt, wenn Cool Jazz, Free Jazz oder Jazz-Rock angesagt sind. Er ist der Außenseiter, der schlicht und ergreifend nicht an Ort und Stelle ist, wenn seine Saat aufgeht. Die 50er-Jahre, als an der Ostküste so fleißig von Tenoristen geboppt wird, verbringt er an der Westküste, wo cooler West Coast Jazz dominiert, und auch davon die meiste Zeit wegen Drogenkonsums im Gefängnis. Als in den frühen 60er-Jahren sein Stern in den Staaten wieder aufgeht, emigriert er, um Jahre lang in Europa zu leben. Das hat ihm und dem europäischen Jazz sehr gut getan, verhinderte aber um Jahre seine Anerkennung als einer der kreativsten und intensivsten Stimmen des Jazz. Die Geschichte dieser Musik wurde ja damals noch überwiegend in New York geschrieben.

Hier liegen die Gründe, warum man Dexter Gordons Klassikerstatus erst in seinen letzten Dutzend Lebensjahren erkannte, als er wieder in den Staaten lebte und dort die Bebop-Renaissance auslöste. Selbst seines weitreichenden Einflusses wurde man sich erst zu diesem späten Zeitpunkt bewusst. Doch auch wenn seine Kunst jenen Einfluss nie gehabt hätte, würde dies seinen künstlerischen Rang kaum in Frage stellen. Auf der Suche nach etwas Vorbildlichem würde man nämlich immer wieder auf Dexter zurückkommen: Kaum einer beherrschte wie er die Kunst, im Verlauf eines Solos (musikalisch sinnvoll!) Zitate einzuflechten. Balladen klangen bei kaum einenmanderen Musiker bei aller Gefühlstiefe so ganz und gar unsentimental. Nur wenige Solisten beherrschten wie er die Kunst, die Spannung bei sehr langen Improvisationen bruchlos aufrechtzuerhalten. Welcher Bebopper vermittelt so sehr das Gefühl von Gelassenheit, auch wenn alles rundherum in Raserei ausbricht, wenn nicht Dexter mit seiner sparsamen Wahl der Töne, die stets eine Spur zu spät zu kommen scheinen? Und dann ist da noch dieser wunderbare Humor in seinem Spiel!

Biografisches

Dexter Gordon erblickte am 27. Februar 1923 als Sohn eines wohlhabenden schwarzen Arztes und einer Mutter mit madagassisch-französischen Vorfahren (daher die blauen Augen!) in Los Angeles das Licht der Welt. Er tat dies auf den Tag genau 14 Jahre nach Ben Webster, der auch der erste Tenorist war, den er hörte: „Ben Webster, one of my heroes, dear friend, namesake to my son... Ben was the first tenor player I heard, in 1936 during assembly in junior high school. They were playing Truckin’ by Ellington on the speakers, which was the first thing Ben recorded with Duke. I still hear it and still feel it, still got the goose pimples”, erinnerte sich Gordon 1981. Das Erlebnis Webster dürfte eine Art Initialzündung gewesen sein. Bis auf ihren Geburtstag scheinen die beiden Tenoristen zunächst wenig gemeinsam zu haben. Die spätere Lebensgeschichte freilich zeigt von beider fatalen Neigung zu berauschenden Flüssigkeiten bis zur Erfahrung, „Americans in Europe“ zu sein, zahlreiche Parallelen. Beider Klangsprachen schließlich offenbaren, bei allen Unterschieden, einen Versuch einer enormen Sensibilität Herr zu werden, Zerbrechlichkeit mit „Männlichkeit“ umzusetzen, Weichheit in die Zucht zu nehmen. Bei Webster offenbart es, vor allem im Frühwerk, das raubeinige Vibrato im wilden Parforce-Ritt. Doch seinen Ruhm verdankt Webster der Rückseite der Medaille, die im Alter immer mehr zur Vorderseite wurde: einer gehauchten Balladenromantik, die sich gar nicht mehr hinter der schützenden „Kerl“-Maske verstecken will. Bei Dexter Gordon hingegen darf man nicht der im Vergleich scheinbar nüchtern-trockenen Tongebung auf den Leim gehen. Hier lassen bloße Nuancen Empfindlichkeiten erkennen, die denen Websters kaum nachstehen. Beide treffen sich in ihrer Essentialität, spielen keinen Ton zuviel, erliegen nie einem Geschwindigkeitsrausch, sind große Meister der Ballade. Ellington-Songs, die man auch mit „Frog“ verbindet, beispielsweise Sophisticated Lady, blieben später auch ein Bestandteil in Gordons Repertoire.

Widersprüchliches

Über Dexter Gordons Kindheit und Jugend sind recht widersprüchliche Informationen im Umlauf. Das Tenorsaxophon war nicht Dexters erstes Instrument. Laut Gordon-Biograph Stan Britt wurde Klein-Dexter im Alter von sieben Jahren von John Sturdevant aus New Orleans im Klarinettenspiel unterwiesen. Die meis-ten anderen Quellen berichten, dass Gordon erst im Alter von 13 Jahren von seinem Vater eine Klarinette erhielt. Britt aber erzählt, dass Gordons Vater schon starb, als Dexter erst zwölf Jahre alt war und dass dies ein Schicksalsschlag war, den er nach eigener Aussage nie richtig bewältigte. Der Arzt hatte seinen Sohn nicht nur durch Schallplatten an den Jazz herangeführt, Größen wie Duke Ellington und Lionel Hampton, die regelmäßig in Los Angeles gastierten, gehörten zu den Patienten des Mediziners. Wenn es stimmt, dass zu Hause regelmäßig Jazzplatten aufgelegt wurden und Dexters so früh verstorbener Vater seinen Sohn sogar hinter die Vorhänge der Theater mitnahm, wenn die Topbands in Los Angeles spielten, so erstaunt es, wie eine Platte mit Ben Webster in der Schule die erste Begegnung des 13-Jährigen mit dem Tenor sein konnte. Sein Vater, der ursprünglich einen Arzt aus ihm machen wollte, förderte sein musikalisches Talent und legte Wert auf eine gründliche Ausbildung, auf Musiktheorie und Harmonielehre. Dexters Lehrer war Lloyd Reese, der übrigens auch Charles Mingus unterrichte.

Wechsel zum Sax

Als Teenager wechselte Gordon zunächst von der Klarinette zum Altsaxophon und spielte es in der Tanzband der Schule. Nachdem er die Basie-Tenoristen Lester Young, Herschel Evans und Dick Wilson, den heute fast vergessenen Tenoristen Andy Kirks, gehört hatte, wusste Gordon, dass das Tenorsaxophon sein Instrument sein würde. Vier Jahre nach dem Tod des Vaters kaufte ihm seine Mutter eines. An der Jefferson High School erhielt er von Sam Brown zusätzlichen Schliff. Spätere Größen wie Chico Hamilton und Buddy Collette spielten mit ihm in aus Schülern der Jordan High School und der Jefferson High School bestehenden Bands. „Long Tall Dexter“, der mit seinen 1,95 m älter wirkte als er war und sich bereits auf Jam Sessions bewährt hatte, war mit 17 längst bereit, die Musikerlaufbahn zu ergreifen.

Die große Chance kam, als Marshall Royal, ein früherer Patient seines Vaters, ihn eines Tages unerwartet anrief und für das Orchester Lionel Hampton engagierte. Bis 1943 verdiente er sich hier die ersten Sporen. Sein Nachbar im Orchester war kein Geringerer als Illinois Jacquet, der das Publikum mit seinem wilden Spiel stets in Ekstase brachte. Illinois Jacquet erinnert sich, dass Gordon zwar sehr liebenswürdig und warmherzig war, anfangs aber kaum spielen konnte und erst in der Zeit bei Hampton zu einem guten Musiker heranreifte. Auf das gegensätzliche Tenoristenpaar bei Count Basie, Lester „Pres“ Young und Herschel Evans, anspielend, sagte er: „Für uns war er Pres und ich war Herschel.“ Leider wurden ihre Duelle bei Hampton nie auf Platte gebannt.

Es versteht sich, dass Dexter in Hamps lauter, kräftig jumpender Band, die dem Rhythm & Blues den Weg ebnete, an der Seite eines der energischsten Tenoristen selbst einen kräftigen Sound entwickeln musste. Der Sound und Gordons Spielfertigkeit wurden in dem Augenblick besser, als sein Instrument (von Ben Webster bei einer Session getestet und für miserabel befunden) durch ein anderes ersetzt wurde und Dexter Gordon und Illinois Jacquet kurz danach ihre Mundstücke miteinander getauscht hatten. Beide spielten noch Jahrzehnte danach das Mundstück ihres Kollegen.

Der Unterschied

Etwas Ähnliches wiederholte sich übrigens Jahre später, als Dexter Gordon John Coltrane zu Beginn seiner Zeit bei Miles Davis hörte: „I said ,Man, you play fantastic, but you have to develop that sound, get that projection’. I gave him a mouthpiece I had that I wasn’t using. I laid that on him and that … made the difference.”

Nach seiner Zeit bei Hampton arbeitete Dexter Gordon zunächst in den Clubs von Los Angeles, unter anderem mit dem Schlagzeuger Lee Young, dem Bruder seines Idols. Seine ersten Platten unter eigenem Namen konnte er 1943 mit Nat King Cole und Harry „Sweets“ Edison aufnehmen.

1944 spielte er einige Wochen im Orches-ter des großen Swing-Pioniers Fletcher Henderson. Als er bei Jesse Price aus Kansas City arbeitete, kam eines Abends Louis Armstrong in einem After-Hours-Lokal an die Bühne, sagte zu Dexter, „Hey, mein Sohn, ich mag deinen Sound“, und Gordon spielte für einige Monate im Orchester des berühmtesten Jazzmusikers aller Zeiten.

Geschichte schreiben

Trotz all der Engagements bei führenden Bandleadern begann Dexter Gordon erst in dem Augenblick Jazzgeschichte zu schreiben, als er sich 1944 als Nachfolger Lucky Thompsons für 18 Monate dem Orchester des Sängers Billy Eckstine anschloss. Das Orchester war im Grunde noch ein Swing-Orchester, aber mit lauter hochkarätigen Bebop-Musikern besetzt und gilt als Inkubationsstätte des Bebop: Dizzy Gillespie, Sonny Stitt, Gene „Jug“ Ammons und Art Blakey arbeiteten in dieser Formation. Vor allem die bei Eckstine ausgefochtenen Saxophon-Duelle mit „Jug“ sorgten für Aufsehen und wurden prototypisch für die späteren Begegnungen mit Tenoristen. „His playing was directed toward the public. His thing was never artistic in an esoteric sense. As far as communicating to an audience, he had the rare ability to do that always. He’d play – whooo – and touch everybody!”, erinnerte sich Dexter an Gene Ammons. Auch in späteren Jahren kam es immer wieder zu solchen Kräftemessen mit Ammons.

Jazz ist Freiheit

Billy Eckstine gewährte seinen Solisten viel Freiheit, sowohl im als auch außerhalb des Orchesters. So konnte sich Gordon bald in den New Yorker Clubs in der 52nd Street etablieren, in zahlreichen Formationen an der Seite der Vorreiter des Bebop. „Was it real? Every day was so … enchanting. I don’t think anyone realized how historical the whole period was. But we knew, that we were doing something new, that we were the young turks, the revolutionaries.” Die Evolution vom Swing zum Bebop wirkte auf die Öffentlichkeit wie eine Revolu­tion, da ihr der Schallplattenstreik der Jahre 1942/43 (der daran schuld ist, das es so wenige frühe Aufnahmen Gordons gibt) die Aufnahmen der Übergangs­phase vorent-hielt. Als in der ersten Nachkriegszeit die Schellacks mit dem vollentwickelten Stil auf den Markt kamen – auf vielen von ihnen war Dexter Gordon zu hören – wa­ren viele Hörer ratlos. Dieser erste moderne Jazzstil schockierte durch rasendes Spiel­tempo, ungewöhnliche Melodik, Harmonik und Rhythmik. Das tanzfreu­dige Publikum stand den Boppern ratlos gegenüber. Jazzpäpste ver­kündeten den Tod des Jazz, Musiker älterer Generationen hingegen waren geteilter Meinung. Armstrong schüttelte zunächst den Kopf, Tenoristen wie Lester Young und Coleman Hawkins, die an der Quelle des Geschehens saßen, hatten keine Schwierigkeit, sich mit den aufmüpfigen Youngstern zu verbrüdern, denn sie wussten, dass sie selbst einiges zu dieser Situation beigetragen hatten.

Bebop in New York

Dexter Gordon war bei der Entstehungsphase des Bebop in den sagenumwobenen New Yorker Clubs der frühen 40er-Jahre nicht dabei, aber seine Stellung entspricht jener Milt Jacksons unter den Vibraphonisten oder Jay Jay Johnsons unter den Posaunisten. Er war unter den Tenoristen der Zeit jener, der als erster und am überzeugendsten und reifsten Bebop spielte. Und er tat dies mit den Gründervätern der Jazzmoderne: Er gehörte eine Zeit lang zur Band Charlie Parkers. Zu Beginn des Jahres 1945 ist er mit Dizzy Gillespie im Plattenstudio, im Herbst legt er eigene Bebop-Platten vor. Im Verlauf der 40er-Jahre beweist er seine Vorrangstellung in der Zusammenarbeit mit Größen wie Bud Powell, Fats Navarro, Max Roach und vielen anderen Boppern. Viele Soli jener Jahre, etwa das später von Eddie Jefferson mit einem Text unterlegte Solo zu Dexter Digs In, sind Klassiker geworden.

Was machte Gordons Spiel an diesem Wendepunkt der Jazzgeschichte so wegweisend, zum eingangs angedeuteten Knotenpunkt der Geschichte des Tenorsaxophons? Alle Bebop-Saxophonisten waren natürlich von Charlie Parker geprägt, der allerdings Altist war. Die Tenoristen konnten und wollten wohl auch nicht ihr Herkommen von den einflussreichsten Tenoristen der späten Swing-Ära verleugnen. In den frühen 40er-Jahren, also kurz bevor der Bebop das Ruder übernahm, waren mit Ausnahme von Lester Young, der die coole Spielweise auf dem Instrument einführte, fast alle Tenoristen mehr oder weniger stark dem Beispiel des prototypisch hotten Coleman Hawkins verpflichtet. Einige seiner Schüler, deren enorme Wirkung heute durchweg unterschätzt wird, waren so einflussreich, dass man sie als Neben- oder Unterschulen der Coleman-Hawkins-Linie betrachten kann. Das prominenteste Beispiel dafür ist Ben Webster. Die Linie des Bebop-nahen Don Byas führt über Lucky Thompson bis Benny Golson in die Gegenwart fort. Daneben bestand die Gruppe der Texas Tenors, von denen Illinois Jacquet natürlich großen Einfluss auf Gordon hatte, und die stilistisch uneinheitlichere Gruppe der Kansas City Tenoristen, von denen wiederum Dick Wilson Gordon geprägt hat. Vereinfachend lassen sich aber alle diese Tenoristen der frühen 40er-Jahre der Hawkins-Richtung zurechnen. Desto stärker im Verlauf der 40er-Jahre der Einfluss des von Lester Young geprägten Altisten Charlie Parker zunahm, desto mehr verstärkte sich auch der Einfluss Lester Youngs, und zwar in dem Maße, dass Young, der mit seinem coolen, verhaltenen Sound und seiner relaxten Spielweise zunächst ein absoluter Außenseiter mit partiellem Einfluss war, innerhalb eines Jahrzehntes fast alle Tenoristen prägte. Dass dies geschehen konnte, hat sehr viel mit Dexter Gordon zu tun.

Dexters Sound war von ehrfurchtgebietender, machtvoller Lautstärke, warm und robust, so wie es bei Vertretern der Coleman-Hawkins-Schule üblich war, doch – darin Lester Young folgend – wesentlich trockener. Seine Spielweise verzichtete auf die reiche Ornamentik, wie sie etwa der damals so wichtige Don Byas pflegte, sondern war schnörkellos und direkt wie die Lester Youngs. Mit seiner Konzentration auf das Essentielle lag Gordon ganz auf der Linie Youngs, mit dem er auch einen Zug ins Lyrische teilte. Youngs Einfluss überwog. Nach Dexter waren alle jungen Bebop-Tenoristen aufgerufen, ob sie mehr Hawkins- oder mehr Young-Elemente in ihren primär von Parker geprägten Stil integrierten. Sie folgten überwiegend Young. Das liegt nicht etwa daran, dass Hawkins „altmodischer“, da älter als Young war. Im Gegenteil: Hawkins Affinität zum Bebop war sehr stark. Hawkins war in harmonischer Hinsicht den meisten Musikern seiner Zeit weit voraus gewesen. Den Bebop begrüßte er als harmonische Neuerung. Lester Young war aber harmonisch fortschrittlich und rhythmisch moderner. Hawkins spielte stark punktierte Swing-Achtel, die sich im Gegensatz zu den übrigen modernen Elementen schlecht mit der rhythmischen Auffassung des Bebop vertrugen. Young-Schüler Dexter Gordon führte aber die geraden Achtelnoten in die Sprache des modernen Tenorsaxophons ein. Youngs Linie wurde aus rhythmischen Gründen nicht zuletzt durch Gordons Einsatz zur dominierenden Tenor-Linie im Bebop und dann aus naheliegenden Gründen wegen Youngs coolem Sound-Ideal maßgeblich für den darauf folgenden Cool Jazz. Indirekt wurde dieser auch von Gordon geprägt: Stan Getz, schwer zu glauben, aber wahr, orientierte sich bei seinen ersten Aufnahmen mit einem erstaunlich robusten Sound an Dexter!

(Fortsetzung folgt…)

Marcus A. Woelfle

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