Anzeige

Startseite der Jazzzeitung

Anzeige

Startseite der JazzzeitungZum Archiv der Jazzzeitung (Datenbanken und pdf)Zur Rezensionsdatenbank der JazzzeitungZur Link-Datenbank der JazzzeitungClubs & Initiativen Die Jazzzeitung abonnierenWie kann ich Kontakt zur Jazzzeitung aufnehmen
 

Jazzzeitung

2006/11  ::: seite 18-19

dossier - Play Your Own Thing

 

Inhalt 2006/11

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / News / break
all that jazz:
Jazz als Wunde – und als Droge
jazzfrauen: Shirley Scott
Farewell: Aladár Pege


TITEL

Tenor-Stories
Bennie Wallace zum 60. Geburtstag


DOSSIER
- Play Your Own Thing
Jazz in Europa – zum neuen Film von Julian Benedikt


BERICHTE
/ PREVIEW
30. Leipziger Jazztage || Jazz-Festival Willisau 2006 || Neuer Stilmix: drum‘n‘bass‘n‘piano || Jazztival 2006 in Bühl
Kurz, aber wichtig: 20 Jahre Jazz in Sonneberg || Jazztage Dresden || Bayreuther Jazz-November 2006 || 27. Leverkusener Jazztage


 PORTRAIT / INTERVIEW
Vocalistin Natascha Roth || Rue Protzer im Gespräch || Zum Tod von Rosanna Tavares || 25 Jahre Jaro

 JAZZ HEUTE
Ein Herz, das vor Heimweh vergeht
Der Italiener Gianmaria Testa singt vom Alltag der Immigranten


 PLAY BACK / MEDIEN

CD.
CD-Rezensionen 2006/11
CD. Scheffners Liste
Bücher: Lesenswerte amerikanische Musikgeschichte
Bücher: That Jazz of Praha
Noten.Gute Songbegleitung ist eine seltene Kunst
DVD. Eine erstklassige DVD-Serie bei TDK
Instrumente. News


 EDUCATION
Ausbildung. Ausbildungsstätten in Deutschland - Fortbildungen, Kurse (pdf) (62 kb)
Abgehört 45. Zoot Sims soliert über „Love for Sale“ von Cole Porter
Jazz meets Klassik meets Jazz
Eine Initiative mit Namen „Linie K”
Bayerischer Jazzclub auf dem Prüfstand
Beate Kohnhäuser legt eine Diplomarbeit über den Jazzclub Regensburg vor

 

Play Your Own Thing

Jazz in Europa – zum neuen Film von Julian Benedikt

„Die echte neapolitanische Pizza besteht aus Pizzateig, Tomatensauce, Sardellen oder Mozzarella. In Deutschland habe ich mal eine Pizza gegessen mit Würstchen, Eiern und verschiedenen anderen Sachen. Der Jazz und seine Geschichte ist wie diese Pizza. Manche benutzen eben andere Zutaten. Man kann trotzdem nicht sagen, dass es keine Pizza ist“ (Gianluigi Trovesi)

„Ich habe das Gefühl, dass die Jazzmedien heute alles als Jazz durchgehen lassen – Hauptsache, es wird ein bisschen improvisiert. Aber Swing und Blues, die wesentlichen Konstanten und Erkennungsmerkmale des Jazz, werden kaum mehr erwähnt. Das kaufe ich so nicht. Das würde ja heißen, dass die indischen Tabla-Spieler auch Jazzmusiker sind. Also das macht doch keinen Sinn.“ (Stanley Crouch, in: Broecking, S. 44)

Juliette Gréco und Julian Benedkt. Alle Fotos: Benedikt Pictures

Bild vergrößernJuliette Gréco und Julian Benedkt. Alle Fotos: Benedikt Pictures

Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Seit vor ein paar Monaten die Fachzeitschrift Down Beat das Esbjörn Svensson Trio auf den Titel gehoben hat, wird wieder diskutiert. Es geht um die Frage, wie viel „Europa“ der Jazz verträgt, und sie wird je nach kultureller Ausgangssituation sehr unterschiedlich beantwortet. Nun schaltet sich auch der Münchner Dokumentarfilm-Spezialist Julian Benedikt („Blue Note – A Story Of Modern Jazz“, 1997; „Jazz Seen“, 2001; „Chico Hamilton – Dancing To A Different Drummer“, 2002) in die Auseinandersetzung ein und präsentiert mit „Play Your Own Thing“ (Bundesweiter Kinostart: 2. November 2006) eine aufwändig produzierte Stellungnahme mit einer ebenso persönlichen, wie historisch korrekten These: Ohne Amerikaner wäre nichts gelaufen, ohne Europäer würde nichts vorwärtsgehen. Zumindest im Detail.

Hintergründe

Die Gemüter der Gemeinde erhitzten sich. Immerhin hatte das Down Beat, seit mehr als sieben Jahrzehnten das Zentralorgan der amerikanischen Jazztraditionspflege, nicht nur drei herausfordernd blickende Schweden auf das Cover gehoben, sondern darüber hinaus die reißerische Titelzeile „Europe Invades!“ danebengestellt. Natürlich beeilten sich die Redakteure im Heft, die Provokation zu entschärfen und betonten, dass es nicht darum gehe, eine Vormachtstellung der Alten Welt zu behaupten. Man habe lediglich bemerkt, dass es zunehmend Gruppen wie das Esbjörn Svensson Trio gebe, die mit einer Mischung aus pop-affinen Stilelementen und improvisierter Musik die Nischenhitparaden empor kletterten – und das eben nicht mehr nur in Europa, sondern auch in Amerika. Darüber hinaus schwang aber auch ein gewisser Stolz in der Rhetorik mit, es nun endlich gewagt zu haben, ein kleines Tabu zu brechen. Schließlich war es das erste Mal überhaupt in der Geschichte des Magazins, dass europäische Künstler den Aufmacher stellten. Da die Redakteure sich darüber hinaus einer martialischen Wortwahl bedienten, die aus der Slogan-Schmiede der Bush-Funktionäre stammen könnte, ging das Kalkül auf. Leser echauffierten sich in den Foren, Musiker wie Wallace Roney oder Branford Marsalis bezogen verschnupft Stellung gegen die unbotmäßige (letztlich aber halbherzige) Würdigung überseeischer kreativer Qualitäten. Ein Skandälchen war generiert.

Albert Mangelsdorff

Bild vergrößernAlbert Mangelsdorff

Bemerkenswert war allerdings weniger die Tatsache, dass die Meinungsschmiede des althergebrachten Jazzbewusstseins überhaupt an prominenter Stelle auf Entwicklungen außerhalb Amerikas reagierte, sondern der Zeitpunkt der Veröffentlichung. Zum einen war die Diskussion bereits in vollem Gange. Nachdem zunächst während der neunziger Jahre die musikhistorischen Positionen nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Lobbyarbeit des Marsalis-Clans zugunsten der amerikanischen Wurzeln und der Verankerung in der Geschichte entschieden worden waren – besonders wirkungsvolle Maßnahmen waren etwa 1997 die Verleihung des Pulitzer-Preises an den Trompeter Wynton Marsalis für sein opulent gestaltetes Sklaven-Epos „Blood On The Fields“ oder die heftig diskutierte, ebenfalls nach allen Regeln der kulturmanipulativen Rhetorik gestaltete zehnteilige Fernseh-Dokumentation von Ken Burns, der die Entwicklung des Jazz kurzerhand in den Sechzigern enden ließ –, wurden während des vergangenen Jahrfünfts vermehrt Stimmen wie die Stuart Nicholsons laut, die zwar nicht für eine Neudeutung der Historie plädieren, aber die Situation der Gegenwart unter anderen Vorzeichen sehen wollen. Zu viel hat sich verändert, als dass die Diskussion noch ignoriert hätte werden können.

Die Gründe für einen schleichenden Wertewechsel in der Musikgeschichtsdeutung sind vielfältig. Zum einen sind weltweit kaum noch eindeutige stilistische Entwicklungen auszumachen, die die inhaltliche Dominanz einer bestimmten Kulturregion nahe legen. Jazz dokumentiert sich im kreativen Umfeld inzwischen nahezu ausschließlich als Ansammlung einzelner kreativer Persönlichkeiten, die zwar auf der Basis solider Traditionspflege wie etwa in New York geballter auftreten, letztendlich aber überall von Tokio bis Johannesburg vorkommen können. Das hängt mit den divergierenden und konvergierenden Kräften der Globalisierung zusammen, die die Verbreitung spezifischen stilistischen und musikalischen Wissens bis in den letzten Winkel der Welt ermöglicht, demgegenüber aber auch Schutzmechanismen aktiviert, die der Entpersönlichung im Internationalen die Verortung im Regionalen oder eben Individuellen entgegensetzen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Professionalisierung der Jazzpädagogik während der vergangenen drei Jahrzehnte. Konnte sich ein Charlie Parker oder auch noch ein John Coltrane vor allem durch Imitation, Reflexion und Praxis auf der Bühne entwickeln, hatten deren Nachfahren seit den Siebzigern bereits Unmengen von transkribiertem Material zur Verfügung oder wurden an den Universitäten gar von den Heroen der Aufbruchsjahre persönlich unterrichtet.

Coco Schumann

Bild vergrößernCoco Schumann

Das hatte zur Folge, dass anerkannte Kaderschmieden wie das Berklee College of Music in Boston von Heerscharen von Studenten aus aller Welt in Beschlag genommen wurden, die wiederum die Erkenntnisse der Jazzahnen nach Abschluss ihrer Ausbildung in mehr oder weniger verarbeiteter Form in ihre Heimatländer mitnahmen. Während noch in den Neunzigern jeder zweite Saxophonist seinen John Coltrane oder jeder zweite Pianist seinen Bill Evans nicht verbergen konnte, sind inzwischen die jungen Koryphäen auf einem interpretatorischen Niveau, auf dem die afroamerikanische Stilüberlieferung bestenfalls noch als eine Wurzel von vielen neben Pop, Rock, zeitgenössischer Klassik oder ethnischen Musikformen verstanden wird. (Und es gehört zu den ironischen Details der Jazzgeschichte, dass gerade New Yorker Musikpioniere der Achtziger wie John Zorn durch die Wertschätzung einer Radical Jewish Music mit deren Wurzeln im Klezmer und der Folklore der osteuropäischen Vergangenheit dem aufkeimenden volksmusik-inspirierten Klangbewusstsein wesentliche Impulse gegeben haben.) Was heutzutage von Skandinavien bis Brasilien oder Australien im improvisierenden Stilumfeld passiert, ist daher nur mehr mittelbar eine Folge dessen, was einst in Storyville oder „Minton’s Playhouse“ seinen Anfang nahm. Wenn überhaupt.

„George W. Bush ist ein großer Jazzfan, fällt das etwa nicht auf? (Lachen) Wie er etwa bei Ricky Martin tanzte und meinte, man habe ja wirklich First Class Entertainment ... Na, ich habe mal eine Pressekonferenz in Michigan gemacht und da war ein hoher Staatsbeamter, der sich für eine Kampagne für den Jazz als nationales Erbe stark gemacht hat. Ich hatte gerade ein Projekt mit dem Smithsonian Institute fertig gestellt. Dann kam er, hielt eine Rede und meinte: ,Ich bin ein großer Fan von Brendan! Ich habe alle Platten von Brendan und finde es fantastisch, was Brendan hier so macht!‘ Als dann alle zu lachen anfingen, merkte er, dass etwas nicht stimmte und sprach nur noch von ,Mr. Marsalis‘. Das sind richtige Fans!“ (Branford Marsalis)

„Nicht nur Jazz, Kultur im Allgemeinen wird mehr und mehr marginalisiert. Die derzeitige US-Regierung ist zu beschäftigt mit Gier und Macht, um sich über die Kultur oder besser das Fehlen von Kultur in der Gesellschaft klar zu werden. Jazz auf der anderen Seite aber wird geschätzt, so wie er immer geschätzt wurde. Verglichen mit der Zeit, in der mein Vater lebte, sind es weltweit heute sogar weit mehr Menschen, die Jazz hören. Natürlich gibt es populärere Musik. Britney Spears verkauft mehr Alben als Trane, Miles, Bird und Monk zusammen. Aber das hat keinen Einfluss auf den Wert der Musik. Sie ist hier, so wie sie ist, und bereit für jeden, der sich darauf einlassen will.“ (Ravi Coltrane)

Weitaus gravierender für das amerikanische Jazzbewusstsein sind aber nicht die Tendenzen der internationalen Musikerszenen, sich von den Ahnen der ursprünglichen Herkunft loszusagen und der Geschichte eine Individualität entgegenzusetzen, die keinen Wert mehr auf die Verankerung in der historischen Überlieferung legt. Das Problem liegt im Lande selbst, im Konservatismus der Ära George W. Bush, die eher Säbelrasseln als Saxophonspielen im Sinn hat. Unversehens wendet sich sogar die in den Neunziger betriebene Musealisierung des Jazz in Gestalt des Neotraditionalismus’ gegen den ursprünglichen Zweck der produktiven Identitätsstiftung. Die Pläne der Stadtväter von New Orleans beispielsweise, im Anschluss an die Verwüstungen von „Katrina“ ganze Viertel zu planieren, um darauf einen Themenpark Jazz zu errichten, könnten den Ausverkauf der Überlieferung einleiten. Aus Kunst wird Disneyland, aus lebendiger Musikkultur ein historisch abgeschlossener und funktionalisierbarer Tourismusartikel, unterhaltsam wohlmöglich, aber kaum noch relevant jenseits des Merchandisings.

Durch solche Maßnahmen lässt sich außerdem elegant die Frage der historischen Verantwortung umgehen, die gerade eine Stadt wie New Orleans, aber auch das konservative und weiße Amerika überhaupt gegenüber dem Jazz hat. Man macht ja etwas Vorzeigbares, irgendwie Schwarzes, auch wenn es im Kern an der Würdigung einer afroamerikanisch geprägten Kulturleistung vorbeigeht. Die dadurch generierte Identität aber ist der einzige Wert, der im Zusammenhang einer politischen und gesellschaftlichen Diskussion noch zählt. Steht Jazz erst so weit am Rande des Interesses, dass er ausschließlich als geschichtliches Phänomen wahrgenommen wird, gibt es auch kaum noch Gründe, ihn in seiner lebendigen, produktiven Form zu fördern. Was bliebe, wären Stilformen, die sich selbst finanzieren, solche, die touristischen Profit abwerfen oder als historisierte Objekte in Schaukästen landen, und solche, die als Liebhaberei abseits der monetären Ströme und des Publikumsinteresses existieren. Eine düstere Prognose.

Wenn nun vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen ein Buch wie das Pamphlet „Is Jazz Dead? (Or Has It Moved To A New Address)“ des Briten Stuart Nicholson diskutiert wird, das deutlich aus einer bereits laufenden Diskussion heraus, wenn auch wegen mangelnder Theoriebildung sehr umstritten, für den europäischen Jazz Partei ergreift; wenn Down Beat darüber hinaus listig-lustvoll aus der tendenziell weißen Kritikerperspektive Öl ins Feuer gießt und damit letztlich nur die eigene Position als Meinungsführer festigen will; wenn überhaupt in der Selbstwahrnehmung amerikanischer Musiker der Jazz als lebende Kunstform in seinem Ursprungsland an kultureller Bedeutung zu verlieren droht und auf der anderen Seite des Ozeans Musiker von Italien bis Skandinavien und Polen bis Spanien sich mit ästhetisch eigenständigen improvisierenden Projekten profilieren; wenn kurz gesagt, der Diskurs im Fluss ist und immer neue spannende Beispiele regionaler, nationaler Jazzkulturen zum Vorschein bringt, dann wird klar, dass ein Film wie „Play Your Own Thing – Eine Geschichte des Jazz in Europa“ längst überfällig war.

„Jazz war noch nie sonderlich bedeutend für den Farmer in North Dakota oder den Arbeiter in Louisiana.“ (Branford Marsalis)
„Der große Beitrag Europas zum Jazz war zunächst, dass wir zugehört haben und diese Musik ernst genommen haben. Das hat sie am Leben erhalten und mehr neue Wege geebnet, als es in Amerika möglich war.“ (Robert Wyatt)

Die Suche nach der Stimme

Julian Benedikt ist Pragmatiker. Die Frage nach musikwissenschaftlichem Proporz ist für ihn zweitrangig. Im Vordergrund steht das persönliche Interesse am Sujet, mit dem er sich befasst, und diese Einstellung bewahrt ihn vor allzu harschen Reaktionen auf seine Filme. Denn wer gar nicht erst behauptet, ein Thema objektiv anzugehen, muss sich auch nicht an dem Anspruch messen lassen, eine erschöpfende Darstellung zu bieten: „Ich habe viele Projekte gemacht, die sich eher mit dem amerikanischen Jazz beschäftigt haben, erst Ostküste mit dem Blue Note Label, dann ‚Jazz Seen‘, der sich eher mit West Coast Jazz befasste. Irgendwann bin ich dann aber zu meinen Wurzeln zurückgekehrt. Ich habe ja in Paris studiert und als ich durch ein Boris-Vian-Projekt wieder dorthin zurückkehrte, habe ich viele Dinge erfahren, die mich hellhörig gemacht haben. Ich war begeistert, was dort damals für eine Szene existierte und wie das alles abgelaufen ist. Dort sind vor allem in St. Germain des Prés viele der Bereiche zusammengekommen, die auch meine eigenen Ausdrucksfelder tangieren, Malerei, Film, Musik, Jazz. Ich habe dann vor vier, fünf Jahren angefangen, ein Drehbuch für einen Spielfilm über das Leben von Boris Vian zu schreiben. Das hat zwar nicht geklappt, aber ich bin an dem Thema drangeblieben und habe schnell festgestellt, dass die Frage nach der eigenen Stimme in Europa häufig gestellt und umfassend verarbeitet worden ist“.

Benedikt sammelte. Er zapfte Archive an, bei den deutschen TV-Anstalten, bei Danmarks Radio, dem Schweizer, innischen und norwegischen Fernsehen, und fand seltene und außergewöhnliche Filmdokumente, von Bud Powell im Club oder Dexter Gordon schlendernd in Kopenhagen, von Tomasz Stanko als jungem nervösen Trompeter in der Band von Krzysztof Koméda. Kuriosa, Raritäten, viele Stunden Musik. Er begann, auf eigene Faust zu filmen, mit dem unbestimmten Gefühl im Bauch, dass der sich vollziehende Generationenwechsel im Jazz Eile erforderte („Als der Film nach zwei Jahren endlich abgesegnet war, gab es Albert Mangelsdorff und Niels-Henning Ørsted Pedersen schon nicht mehr – zwei Musiker, die sehr wichtig für das ganze Projekt sind.“). Benedikt fand Gleichgesinnte, die ihn unterstützten, wie Manfred Rehm, den Leiter des „Birdland“ in Neuburg, der ihn, wann immer es möglich war, drehen ließ. Er reiste durch die Welt, filmte Arve Henriksen beim „Punkt“-Festival in Norwegen, plauderte mit Juliette Gréco über ihre Liebe zu Miles, mit Georg Baselitz über Jazz an sich oder mit Joachim Kühn über die Zeit, als der Osten noch der Osten war. Berge von Material sammelten sich an, mit jedem Gesprächspartner, jedem längeren Filmausschnitt öffneten sich neue Fragen und Perspektiven. Manche Themenfelder wären bereits eigene Filme gewesen, Coco Schumann etwa, den der Jazz vor den Nazi-Schergen rettete, oder Django Reinhardt, dessen singuläre Persönlichkeit bis heute eine ganze Szene von Gypsy-Musikern inspiriert.

Schließlich war Benedikt so weit, dass er sich entscheiden musste. Er wählte den Mut zur Lücke, zum Rhapsodischen, dem er collagenhaft eine Form gab. Das Thema führt selbst durch den Film, ein Erzähler oder Moderator fehlt, lediglich ein paar mit Bildern eines Hubschrauberfluges über norwegischen Fjorden unterlegte Statements des Saxophonisten Jan Garbarek umklammern am Anfang und Schluss den Fluss der Bilder. Der Rest ist assoziativ aneinandergereiht, folgt weitgehend einer chronologischen Ordnung zumindest bis in die siebziger Jahre hinein und beleuchtet anhand von Konzertausschnitten, Interviews mit den Musikern und historischen Filmdokumenten zahlreiche Nebenstränge der Entwicklung, in Italien etwa, in Frank-reich, Deutschland, der DDR, Polen, Skandinavien: „Am Anfang bin ich durchaus chronologisch vorgegangen, bis zu der Zeit etwa, als in Paris viel von den Informationen über Jazz an die Europäer weitergegeben wurde. Dann allerdings habe ich diese Struktur immer wieder durchbrochen, weil ich die Verbindung zur Gegenwart schaffen und die jungen Musiker, die diesen emanzipatorischen Prozess gar nicht mehr so bewusst durchgemacht haben, zu Wort kommen lassen wollte.“

So entstand ein streitbarer Zwitter zwischen Filmkunst und Dokumentation, der von den Meinungsführern der derzeitigen Konservativismus-Diskussion in Amerika mit Wohlwollen aufgenommen werden müsste. Denn „Play Your Own Thing“ rüttelt nicht an den Grundfesten des jazzhistorischen Wertekanons. Ganz klar, die Musik stammt aus den USA, ganz klar, sie wurde nach dem Krieg von den Alliierten nach Europa exportiert und dort quasi osmotisch von der dürstenden Gemeinde aufgesogen, ganz klar, es fanden Emanzipationsprozesse statt, notwendig für die Schaffung eines europäischen Jazzbewusstseins, aber zunächst kaum relevant für die Weiterentwicklung des Idioms auf internationaler Ebene. Die Perspektive ist innereuropäisch auf historisch korrekter Basis, behandelt das Thema der eigenen musikalischen Sprache jedoch vor allem an der Oberfläche der historischen Phänomenologie. Jazz wird bis zum Schluss als Derivat einer uramerikanischen Stilsprache verstanden, das zwar eigenständige Dialekte mit zum Teil deutlichen Abweichungen entwickeln konnte und inzwischen tendenziell unabhängig agiert, aber im Kern doch den Parkers und Ellingtons verhaftet bleibt. Damit hängt sich Benedikt nicht aus dem Fenster und wird auch keine wütenden Reaktionen aus dem Lager der Normverwalter abwehren müssen.

Die Eigenständigkeit des „Own Thing“ besteht für ihn weiterhin in der Absetzung des Einzelnen oder einer Gruppe von den Vorgaben der Historie, diachron, nicht synchron aus der Sicht junger Musiker, für die die Entwicklungen in New York, Chicago oder Los Angeles die gleiche Bedeutung haben wie die in Rom, Barcelona, Berlin oder Paris. Damit aber macht er seinen Film für viele Meinungen kompatibel und kann sich eines Urteils enthalten, das ihn tiefer als erwünscht in den Diskurs hineinzieht: „Ich bin kein Jazzhistoriker. Ich bin an diesen Film herangegangen wie jemand, der sich für das Thema interessiert und Besonderheiten aufspürt, aber nicht wie jemand, der mit großem Hintergrundwissen agiert. Sicher kannte ich einiges von meinen anderen Projekten, habe vieles von Musikern erfahren und mich auch beraten lassen. Aber zunächst einmal versuche ich, der Musik gerecht zu werden, und das, was den Jazz ausmacht, auch auf meine Arbeit zu übertragen. Ich gehe zwar von einem bestimmten Thema aus, die Interpretation jedoch ist mir selbst überlassen. Natürlich hätte ich auch durch einen Sprecher erklären lassen können, wer wann was gemacht hat. Aber dann hätte ich den Film keinem Kino- oder Fernsehpublikum vorsetzen können. Denn das waren Sachen, die mich lange davon abgehalten haben, mich mit dem Jazz zu beschäftigen, diese intellektualisierten und verkopften Geschichten, wie man was zu machen hat und was man nicht machen darf. Ich versuche, da andere Wege zu beschreiten.“ Schließlich ist Julian Benedikt Pragmatiker. Er will, dass sein Film gesehen, verstanden und nicht verrissen wird. Das ist legitim und eröffnet die Diskussion.

Ralf Dombrowski

Weiterführende Literaturhinweise:

• Broecking, Christian: Black Codes. Berlin, Verbrecher Verlag, 2005.
• Goddard, Chris: Jazz Away From Home. New York, Paddington Press, 1979.
• Heffley, Mike: Northern Sun, Southern Moon – Europe’s Reinvention Of Jazz. New Haven, Yale University Press, 2005.
• Nicholson, Stuart: Is Jazz Dead? (Or Has It Moved To A New Address). New York, London, Routledge, 2005.
• Raphael-Hernandez, Heike: Blackening Europe – The African American Presence. New York, Routledge, 2004.
• Ross, Larry: African-American Jazz Musicians In The Diaspora. Lewiston, New York, E. Mellen Press, 2003.

| home | aktuell | archiv | links | rezensionen | abonnement | kontakt | impressum
© alle texte sind urheberrechtlich geschützt / alle rechte vorbehalten / Technik: Martin Hufner