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Jazzzeitung

2002/07-08  ::: seite 22-23

dossier

 

Inhalt 2002/07-08

standards
Editorial
News
no chaser: Improvisation verboten
Musiker-ABC: Roy Eldridge
break

titel
Lebenslange Melodie.
Tomasz Stanko wird sechzig

berichte
Dresden.
Das Moscow Art Trio in der Unterkirche der Dresdner Frauenkirche

Dresden.

Gianluigi Trovesis „Sommernachtstraum“

München.

„Come Sunday“ mit Instabile Orchestra

Neuburg.
Till Brönner: Süffig

New Orleans.
33. New Orleans Jazz and Heritage Festival

Würzburg.

Rekord-Besucherzahlen beim 14. Würzburger Afrika Festival 2002

jazz heute
 Der Jazz und die Donau
Straubing bekommt ein traditionsreiches Festival
  Aufruf an die Jazzszene in Deutschland
  no chaser: Improvisation verboten
  Leserbrief. Selbstbedienungshalde. Ein Leserbrief zum Thema „Jazz im Radio“

portrait / interview
Visionäre Linien
Trio-CD mit Thorsten Klentze
An der Grenze zum Neuen
Gilberto Gil mit neuer CD auf Deutschlandtournee
Ein Name als Markenzeichen
Im Gespräch mit dem Produzenten Siggi Bemm
Sein Weg
Franz Dannerbauer wird 50
Geschichtenerzähler des Jazz
Jubilar Joe Zawinul am 17. Juli beim Münchner Klaviersommer

play back / rezensionen
Jugendsünden
Artie Shaw: Frauenheld, Grübler und Perfektionist
Progressive Klänge und sentiment
Big Bands der Nachkriegszeit auf neu erschienenen Tonträgern
Spannende Lebenslinien
William A. Shack in Paris, Gil Evans und Henry Mancini
Musikalischer Nasenbär
Multitalent Volker Kriegel und sein Kinderbuch
Zuverlässige Übestützen
Neue Noten für Jazz-Gitarristen und Sänger-/innen
Internet. Link-Tipps

education
Fortbildung. Fortbildung
Abgehört 8
Transkription des Klassikers „I Could Write A Book“ von Rogers/Hart (Miles Davis)
Musikindustrie einbeziehen.
Die Jazzabteilung an der Musikhochschule Köln, Teil II

dossier
Komponist ohne Noten
Der Ensemble-Innovator Charles Mingus

service
Critics Choice
Rezensionen 2002/07-08
Service-Pack 2002/07-08 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (188 kb))

 

Komponist ohne Noten

Der Ensemble-Innovator Charles Mingus

Es war als Mingus’ großer Triumph geplant und ging als sein größtes Fiasko in die Jazz-Geschichte ein: das Town-Hall-Konzert von 1962. Von Anfang an krankte das Projekt an einem eklatanten Missverhältnis: hier die hoch fliegenden, seriös-konzertanten Pläne, Charles Mingus als ernsthaften Komponisten und Ensemble-Visionär zu präsentieren, und dort die launige, termingeschüttelte Unberechenbarkeit des Jazz-Business. Im September 1962, als sich Mingus längst ganz auf das große Ereignis hätte konzentrieren müssen, ließ er sich noch zu der Aufnahmesession für „Money Jungle“ überreden. Wie sollte er auch nein sagen, wenn sich die einmalige Gelegenheit bot, mit Duke Ellington und Max Roach eine Trioplatte zu machen? Während er mit den beiden im Studio war, trafen andere die Entscheidung, das Town-Hall-Ereignis um fünf Wochen vorzuverlegen. Kein Problem, könnte man denken, Jazzmusiker sind ja flexibel. Nur betraf es in diesem Fall 35 Musiker und eine orchestrale Partitur von zweieinhalb Stunden, die erst allmählich Konturen annahm. Der Skandal war vorprogrammiert.

New Charles Mingus Group, Berlin 1970: Mingus mit Bobby Jones (ts), Charles McPherson (as), Edward Preston (tp). Nicht im Bild: Jaki Byard (p) und Danny Richmond (d)

Charles Mingus verstand sich immer als Komponist. Schon der Teenager beschäftigte sich mit Strawinsky, Bartók, Richard Strauss, träumte Musik von einer tonalen und formalen Freiheit, wie sie der Jazz damals nicht kannte. 1939 entdeckte er Duke Ellington, der lebenslang ein Vorbild blieb. Ellingtons Beispiel zeigte ihm, dass das Format Jazz immer weiter ausgedehnt werden konnte, dass orchestrale Farben und kontrapunktische Überlagerungen darin Platz hatten, dass konzertante Formen, Suiten und Quasi-Sinfonisches integrierbar waren. Mehr als 30 „extended works“ hat uns der Duke hinterlassen – von der achtminütigen „Creole Rhapsody“ (nach Ansicht der New York School of Music 1931 die „Komposition des Jahres“) bis hin zur Fragment gebliebenen „Uwis Suite“, die Ellington 1972 der Universität von Wisconsin widmete.

Anders als Ellington, der seine Großwerke lieber in mehrere Sätze aufbrach und als „Suiten“ oder Mehrgang-Menüs vorstellte, suchte Mingus den großen, vielgestaltigen Entwicklungsbogen: den genauen Gegensatz zu 12- oder 32-taktigen Chorussen und 3-minütigen Plattenseiten. Seine Kompositionen wuchsen teilweise über Jahrzehnte hinweg und trugen immer wieder andere Namen und Verkleidungen. Einige seiner umfangreicheren Werke gehen bis in die 40er-Jahre zurück, auch wenn sie damals erst aus ein paar Kernphrasen bestanden, etwa „Chill Of Death“, inspiriert von Richard Strauss’ „Tod und Verklärung“, oder „Half-Mast Inhibition“, für das Mingus 1960 Gunther Schuller als Dirigenten holte. Andere Stücke nahmen in den 50er-Jahren ihren Anfang, als der Third Stream und der konzertante Cool Jazz ohnehin die Begegnung zwischen klassischer Form und jazziger Improvisation auf die Tagesordnung setzten. Mingus’ Jazz Workshop war damals eine Art Forschungsakademie zur Überwindung der Bebop-Formen. „Wir werden keine Changes spielen, wir werden einfach Moods spielen“, wies Mingus seine Musiker 1954 in „Gregarian Chant“ an. „Folgt mir einfach und bringt eure Moods ein.“

Vitale, gewalttätige Stilistik

Die Charles Mingus Group bei den Berliner Jazztagen 1975: George Adams (ts) und Mingus (b). Nicht im Bild: Jack Walrath (tp), Hugh Lawson (p), Dannie Richmond (d)

Innerhalb von zwei, drei Jahren entwickelte Mingus aus dem intellektuellen Cool Jazz seines Jazz Workshops eine unverkennbare, höchst vitale, fast gewalttätige Stilistik: eine Ensemble-Sprache, die auf dynamische Gegensätze, wilde Ausbrüche, ständige Rhythmuswechsel, geordnetes Chaos und dramatische Kollektivimprovisation baute. Ein musikalisches Konglomerat, in dem nicht nur Ellington und Strawinsky Platz hatten, sondern auch Mexikanisches und Indisches, Gospel und Blues eingebacken waren. Die Wiedergeburt ungebärdiger Jazz-Archaik als Vor-Alarm zum Freejazz: nachzuhören auf Platten wie „The Clown“, „Tijuana Moods“, „Ah Um“ oder „Blues And Roots“. Und Mingus hatte nie genug: Jedes seiner Stücke wurde immer komplexer, bekam da noch ein Riff und dort noch eine Gegenmelodie, hier einen Zwischenteil oder drüben noch einen Break. Schicht wuchs da über Schicht und verlangte eine besondere Qualität von Ensemble-Spiel. Als die Aufnahme in der Town Hall nahte, glaubte Mingus offenbar, diese Entwicklung zum Gipfelpunkt bringen zu können. Etwa 20 Stücke bereitete er vor und nannte das Ganze seinen „Epitaph“, seinen Grabspruch, sein Vermächtnis. Er war gerade 40 Jahre alt, da meldet sich eben die Midlife Crisis.

Natürlich war das nicht zu schaffen. Das Projekt wuchs ins Uferlose: Mingus benötigte nicht nur mehrere Helfer fürs Kopieren der Stimmen, sondern musste ihnen nach und nach auch das Orchestrieren überlassen. Er schaffte es gerade so, die Grundzüge seiner Stücke festzulegen, wollte aber überall noch mehr Dichte, noch mehr Stimmen, und die Zeit drängte. Sein selbstlosester Helfer war der Posaunist Jimmy Knepper, dem so viel Stimmenkopieren aufgetragen wurde, dass er sich selbst wiederum an ein Kopierbüro wenden musste. Noch bei der Aufführung der Musik saßen Kopisten auf der Bühne und stellten eifrig die letzten Stimmen fertig. Als Mingus wenige Tage vor dem Konzert Jimmy Knepper aufforderte, noch ein paar Begleitfiguren („backgrounds“) für die Soli zu schreiben, meinte der zu Recht: Das ist deine Musik, Mingus, und alles sollte von dir sein. Mingus, der nicht nur als Komponist unter wahnsinnigem Termindruck stand, sondern auch die ganze Organisation am Hals hatte, sich mit den „white motherfuckers“ der Plattenfirma herumärgerte und zudem als Dirigent und Solist auftreten sollte, flippte aus und schlug zu. Jimmy Knepper verlor einen Zahn und fiel damit als Posaunist schon mal aus.

Geld-zurück-Garantie

Auch sonst ging alles Mögliche schief. Da die Musik neu und von ungewohnter Komplexität war, verlangte Mingus ausgedehnte Proben und am Ende eine konzentrierte Aufnahmesession, zu der interessierte Zuhörer zugelassen würden. Die Plattenfirma United Artists, die 23.000 US-Dollar (1962!) in diese Veranstaltung investierte, hoffte dagegen auf ein paar Einnahmen und schrieb die Session als reguläres Konzert aus. Mingus, der zuletzt Tag und Nacht durchgearbeitet hatte, forderte die Besucher auf, das Geld, das sie für Konzerttickets bezahlt hatten, zurückzuverlangen. Mehr als hundert folgten seinem Vorschlag. Auch aufnahmetechnisch klappte wenig: Bei den Proben gab es keine Monitore für die Musiker und als das „Konzert“ das Zeitlimit überschritt, wurde es, den gewerkschaftlichen Bestimmungen folgend, um Mitternacht von den Bühnenarbeitern einfach abgebrochen. Was sich dann schließlich auf den Bändern fand, haben Verantwortliche der Plattenfirma bearbeitet, editiert und (teils falsch) benannt.

Mingus bei einem Auftritt mit der New Charles Mingus Group, Berlin 1970

Was blieb von Mingus’ zweieinhalbstündigem Vermächtnis? Eine 36-Minuten-LP (mit überdurchschnittlich vielen Knacksern und Verzerrungen) und viel Arbeit für die Anwälte. Knepper verklagte Mingus, Mingus verklagte United Artists. Erst 30 Jahre später widerfuhr Mingus’ Ambitionen halbwegs Gerechtigkeit: mit Gunther Schullers orchestraler Rekonstruktion „Epitaph“ und mit dem digital nachgemischten „Complete Town Hall Concert“. Auch konnte Mingus die Town-Hall-Erfahrung schon kurz danach im Studio produktiv umsetzen: Mit einer neuen Plattenfirma (Impulse) legte er am 20. Januar 1963 die Grundlagen für zwei seiner großartigsten Scheiben, „The Black Saint And The Sinner Lady“ und „Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus“. Vor allem die erste Platte verwirklichte überzeugend die Idee eines großformatigen, vielgestaltigen, multistilistischen Jazz-Werks, auch wenn das elfköpfige Ensemble nicht mit der orchestralen Dimension des Town-Hall-Unternehmens vergleichbar war.

Einen weiteren Versuch, seinen höchsten Ambitionen gerecht zu werden, machte Mingus 1971 mit Hilfe der Plattenfirma Columbia, die ihn im Vorjahr erneut unter Vertrag genommen hatte. Diesmal sollte sogar ein Sinfonie-Orchester mit einbezogen werden, aber wiederum lieferte Mingus alles andere als klare Vorlagen. Nicht zuletzt deshalb wohl blieb Thad Jones, der als Arrangeur vorgesehen war, die geforderten Partituren schuldig. Einen Ersatzmann fand Mingus damals in Sy Johnson, der die mühevolle Aufgabe auf sich nahm, aus Konzertbändern, mündlich geäußerten Ideen, ein paar skizzierten Noten und einigen ihm von Mingus vorgesungenen Melodien tatsächlich orchestrale Partituren zu erstellen. Von dieser komplizierten Entstehungsgeschichte erzählen die Kommentare zu den sieben resultierenden Stücken. Zu „The Shoes Of The Fisherman’s Wife Are Some Jive Ass Slippers“ etwa liest man: Transkribiert, arrangiert, orchestriert und dirigiert von Sy Johnson. Bei „Adagio Ma Non Troppo“ heißt es: Transkribiert von Hub Miller, orchestriert und dirigiert von Alan Raph. Bei „Hobo Ho“: Arrangiert von Charles Mingus und diktiert an Bobby Jones, dirigiert von Sy Johnson. Doch das Ergebnis zerstreut alle Zweifel: Das Album „Let My Children Hear Music“ ist ein schlagender Beweis für Mingus’ Bedeutung als Komponist und Ensemble-Innovator und blieb ihm bis zu seinem Tode sein liebstes Album.

Das wurde zur Regel: Mingus lieferte die Ideen, aber selten die endgültige Form. Auch als Komponist wollte er Improvisator bleiben, ad hoc reagieren können, kurzfristig neue Stimmen ergänzen oder alles wieder umwerfen. Er verstand sich als „Spontaneous Composer“ und weigerte sich schließlich ganz, seinen Mitmusikern überhaupt noch Noten vorzulegen. Also sang er jedem seine Stimme vor oder spielte sie auf dem Klavier an, meist immer nur vier Takte am Stück. Auch durcharrangierte Passagen sollten damit ihren freien und persönlichen Charakter behalten, expressiv und dynamisch klingen. Mancher schnelle Lauf in den Bläserstimmen blieb allerdings auf diese Weise immer etwas unscharf und verhuscht. Die Solisten bekamen weder Akkordsymbole vorgelegt noch konnten sie sich mit einem raschen Blick auf eine Partitur harmonisch orientieren. Der Komponist ohne Noten verlangte von seinen Improvisatoren das kreative Mitgestalten: Er machte sie zu Ko-Komponisten. Sein „Jazz Workshop“ hieß nicht umsonst so: Hier wurden Ideen erprobt, weiterentwickelt, fallen gelassen, durch andere ersetzt. Alles wurde immer wieder verändert – und oft genug spontan mitten im Konzert. Jeder der Beteiligten musste in der Musik so traumhaft sicher sein, dass ihn nichts Unvorhergesehenes aus der Spur warf.

Auf Kommando explodieren

Mingus zog seine Musiker für das, was sie zum Ganzen beisteuerten, auch zur Verantwortung: Er hasste Routine und leichte Lösungen. Er verlangte Originalität, Spontaneität, das Äußerste, das Unbedingte. Und er verlangte es mit Nachdruck: Sein cholerisches Temperament war berüchtigt. Seine Musiker sollten auf Kommando „explodieren“ können. Zuweilen präsentierte er ihnen irgendwelche Bilder, über die sie improvisieren sollten. Zuweilen lud er zusätzliche Solisten zu den Proben, um die Konkurrenz anzuheizen. Zuweilen stand er hinter dem Improvisator und schrie ihn aus der eingefahrenen Bahn hinaus ins Wagnis, aufs unsichere Hochseil. Diversen Augenzeugenberichten zufolge soll Mingus seine Solisten sogar mit einer Waffe bedroht und so zum Äußersten getrieben haben. Wer nicht spurte, flog.

Peitschenschwinger

Charles Mingus schien immer eine Peitsche über den Köpfen seiner Musiker zu schwingen. Gewöhnlich dirigierte er das Ensemble durch sein Instrument – all die komplexen Umschwünge zwischen Tutti-Figuren und Solostellen, Out-of-tempo-Passagen und Kollektiv-Improvisationen, schnellen, langsamen oder sich beschleunigenden Rhythmen. Mingus’ Temperament und Virtuosität waren so sehr die Seele dieser Musik, dass sein langjähriger Posaunist Jimmy Knepper behauptete: „Ohne Mingus am Bass ist es nicht Mingus’ Musik.“ Und Mingus trieb das Ensemble nicht nur durch sein Bassspiel vor sich her: Er redete und schrie, während er spielte, kommentierte die Soli und feuerte die Improvisatoren an. Er behandelte die Band wie ein Instrument und traf spontane Entscheidungen mitten im Spiel. Er rief etwa einem Musiker zu, ins Solo eines anderen oder in einen Drum-Break hineinzuspielen. Oder er überschrie das Ensemble mit einer Ad-hoc-Falsettfigur oder sang plötzlich eine Gegenmelodie, die die Musiker aufgreifen sollten. Natürlich konnte Mingus auch nicht ruhig halten, als Pepper Adams 1963 ein eigenes Album mit Mingus’ Musik aufnahm. Mingus schrieb nicht nur ein Stück für diese Gelegenheit, sondern kreuzte bei den Aufnahmen höchstpersönlich auf und brachte seine gewohnte Arbeitsweise ein. Der beteiligte Tenorsaxophonist Zoot Sims, der Mingus’ spontanes Komponieren nicht gewohnt war, erzählt: „Er rannte herum, raunte uns zu, was wir tun sollten. Er kam zu den Saxophonen herüber und summte uns leise etwas vor. ‚Und das spielt ihr hier hinter der Posaune.’“

Charles Mingus auf dem Weg zu den Berliner Jazztagen 1970, bei denen er sehr zur Enttäuschung seiner Anhänger kaum avantgardistische Ansätze erkennen ließ.
Alle Fotos: Binder, mit frdl. Genehmigung des Bayerischen Jazzinstitutes

Mingus war ein unbequemer Bandleader. Weil er das Ganze im Auge hatte, war er ungeduldig mit seinen Sidemen, er schikanierte, schulmeisterte und beleidigte sie. Nach längerer Krankheit hieß es einmal: „Mingus ist wieder ganz der Alte. Er hat gerade die Band angeschrieen.“ Wenn ihm etwas nicht passte, unterbrach er mitten im Spiel und diskutierte dann sogar mit dem Publikum über die Unfähigkeit seiner Nebenleute. Wenn ihn jemand ärgerte, konnte er tätlich werden oder Morddrohungen aussprechen. Auf Europatournee verlor er regelmäßig die Hälfte seiner Musiker und einmal kündigte er seiner kompletten Combo, weil sie angeblich nicht tat, was er verlangte. In Mingus’ Besetzungen war daher ein ständiges Kommen und Gehen. Der Trompeter Ted Curson meinte: „Ich habe keinen Musiker erlebt, der keinen Ärger mit Mingus bekam. Sogar Gastsolisten wie Yusef Lateef waren davor nicht sicher. Ich war froh, als ich aus seiner Band raus war.“

Die wichtigsten Solo-Aufgaben in Mingus’ Konzept kamen zweifellos den Saxophonisten zu. Der „human cry“ des Saxophons, bis in Ekstase, Horror und Panik gesteigert, verleiht Mingus’ Musik oft genug ihren zornigen, emotional kaum mehr zu überbietenden Ausdruck. Daher war Mingus nach seiner Cool-Jazz-Phase immer auf der Suche nach hoch expressiven Saxophonisten, die bereit waren, als Improvisatoren eigenwillige Wege zu gehen und ihrem Instrument auch hässliche Töne abzuringen. Auf dem Album „The Black Saint And The Sinner Lady“ ließ Mingus seinen Altsaxophonisten Charlie Mariano nachträglich Improvisationen über die Musik legen. Er erteilte dem Solisten die Einsätze per Wink und erwartete auf Kommando nervenzerrende Ausdrucksstärke. Mariano war nur einer in einer langen Reihe von Altsaxophonisten, deren Spielspektrum von Mingus geprägt wurde, darunter Shafi Hadi, John Handy und Charles McPherson. Sie alle hat Mingus gequält, um sie für die außerordentliche Emotionalität und Originalität seiner Musik zu stimulieren und von Konventionen zu befreien. Und damit formte er sie natürlich über seine Musik hinaus.

Brüder im Geiste

Seinen ersten idealen Solisten fand Mingus 1956 im erst 23-jährigen Altsaxophonisten Jackie McLean, der damals aber bereits mit Miles Davis aufgenommen hatte. McLeans eigentliche Vorbilder waren die Tenoristen: Sein Ehrgeiz, Lester Young oder Dexter Gordon auf dem kleineren Saxophon zu imitieren, brachte einen der individuellsten, kraftvollsten Sounds des Jazz hervor. Jackie McLean spielte das Altsaxophon mit nie gekannter Lautstärke und Attacke, Härte und Aggressivität. Doch es war Mingus, der McLean dazu brachte, auch melodisch und harmonisch Neuland zu betreten. Er notierte ihm eine Reihe von Tönen, die der Saxophonist „gegen“ die Akkorde spielen sollte, schrie ihn zu ekstatischen, kreischenden Höhenflügen empor und versuchte alles, um McLeans Bebop-Routine zu zerbrechen: „Vergiss Harmoniewechsel und in welcher Tonart du bist! Alle Noten sind richtig!“ McLeans Saxophon-Schreie in „Pithecanthropus Erectus“ (1956) sind bis heute legendär.

Im Rückblick empfand McLean die Zeit bei Mingus als eine unschätzbar wichtige Lektion: „Er wollte meine Persönlichkeit in meinem Spiel hören. Er gab mir das Gefühl, dass ich hinausgehen und auf der Bühne explodieren konnte.“ Mingus’ Lehren haben McLeans Spiel für immer von der Routine befreit: Power wurde sein Wahrzeichen, Adrenalin-Stöße lieferte er am laufenden Band. In seinen ersten Jahren bei Blue Note wirkte er mit Nachdruck dahin, dass sich das Hardbop-Label dem Neuen Jazz öffnete und so hervorragende Grenzgänger-Alben möglich machte wie McLeans „Let Freedom Ring“ oder Grachan Moncurs „Evolution“. Auch auf dem Bop-Renaissance-Label SteepleChase setzten McLean und der Drummer Michael Carvin 1974 einen wunderbar freien Akzent mit dem Album „Antiquity“. Seit vielen Jahren wirkt McLean in Hartford als Jazz-Professor und vermittelt seine Power-Philosophie an junge Saxophonisten. Die Resultate sind nachzuprüfen bei Abraham Burton und Jimmy Greene.

Instrumentele Konversation

Mingus erinnerte gerne daran, dass alle großen Saxophonisten auf ihrem Instrument „gesprochen“ hätten, und erzählte, Charlie Parker habe eines Tages in einem Saxophonsolo sogar über die Frage der Reinkarnation diskutiert. Die instrumentale Konversation pflegte Mingus vor allem mit Eric Dolphy: Bass und Bassklarinette trafen sich in dem Stück „What Love“ regelmäßig zum „sprechmelodischen“ Dialog, vorzugsweise zu theologischen Themen. Dolphy war ein geborener Mingus-Sideman: in seiner Spielauffassung eine Mischung aus Ornette Coleman und Charlie Parker, dabei von einer ungebremsten, beinahe aggressiven Expressivität, zugleich in allem musikalisch höchst bewusst und reflektiert – und enorm geduldig und stark im Nehmen. Zudem beherrschte er gleich drei Instrumente meisterlich – Altsax, Bassklarinette, Flöte – und war daher vielseitig einzusetzen. Als Mingus 1960 ein klavierloses Quartett nach Art von Ornette Coleman zusammenstellte, war Dolphy das Zentrum, ebenso 1964, als das Mingus-Sextett seine große Europatournee antrat.

Mingus und Dolphy hatten einiges gemeinsam: Beide kamen aus dem Westen der USA, setzten sich mit Organisationsformen der Neuen Musik auseinander, waren vom kammermusikalisch gefärbten Cool Jazz der 50er-Jahre geprägt und von dort direkt zur heftigeren Avantgarde-Sprache der 60er-Jahre übergegangen. Im Lauf weniger Jahre hatte sich Dolphy mit einer Hand voll eigener Platten und seinen Gastrollen bei John Coltrane, Oliver Nelson und Charles Mingus als einer der führenden Musiker des neuen Jazz profiliert. Für Mingus war Dolphy ein „Heiliger“: Dennoch gab es auch zwischen ihnen immer wieder jene Spannungen, die letztlich dem Energie-Level von Mingus’ Musik zugute kamen. Als Dolphy im April 1964 die Mingus-Band verließ und in Europa blieb, musste er sich von Mingus einiges anhören. Als Dolphy kurz darauf in Berlin überraschend an einer nicht erkannten Diabetes starb, hatte Mingus mit seinen Schuldgefühlen zu kämpfen. Er sponn sich sogar eine Mordkomplott-Geschichte zusammen.

Auch unter den Tenorsaxophonisten fand und entwickelte Mingus immer wieder Musiker von ausgeprägter Individualität und enormer Ausdrucksstärke, darunter J. R. Monterose, Booker Ervin, Clifford Jordan, Roland Kirk und Bobby Jones. Sein letzter Tenorist, George Adams, verkörperte noch einmal den idealen Mingus-Solisten: Adams spielte nicht nur eine zusätzliche Instrumentalfarbe, die Flöte, er verband zudem in seinem Spiel auf sehr individuelle Weise das Avantgardistische und das Gospel- und Blues-Erbe, die beiden Grundpfeiler von Mingus’ Musik. Wie Eric Dolphy oder Jackie McLean brachte Adams seinen persönlichen Sound immer schon in den ersten Takt ein. Seine Stilmixtur war einzigartig – die Kraft eines Coleman Hawkins, der Soul eines Stanley Turrentine, die Ekstase eines John Coltrane, der Groove der Rhythm-and-Blues-Sänger – und ergab doch ein unverwechselbares Ganzes.

George Adams stammte aus Georgia und war mit der Südstaaten-Musik groß geworden, hatte Gospelchöre, Soul-Sänger, Blues-Barden und Orgelcombos begleitet. 1968 kam Adams nach New York und geriet dort in den Sog von Freejazz und Funk. Doch wenn er sich unter Mingus’ Peitsche zur Ekstase kreischte und auf dem Tenorsax das expressive Falsett forcierte, das Erkennungszeichen der Soul-Sänger und afrikanischen Beschwörer, dann war sein Südstaaten-Erbe auch im freien Kontext präsent. Nach Mingus’ Tod fand sich Adams mit zwei weiteren Mingus-Veteranen – Don Pullen und Dannie Richmond – zu einem Quartett zusammen, das im konservativen Bop-Mainstream der Achtziger einen erfreulichen Lichtblick bot. Das Adams-Pullen-Quartett spielte groovende, packende Musik zwischen Tradition und Avantgarde.

Und wenn Adams am Ende seines Lebens wieder Gospel-Hymnen wie „Nobody Knows“ oder „Precious Lord“ spielte, dann enthielt das immer etwas von der Unbotmäßigkeit, gerechten Wut, überschießenden Emotion und spontanen Neuformung, wie sie Charles Mingus vorgelebt hatte.

Hans-Jürgen Schaal

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