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Jazzzeitung

2007/04  ::: seite 16

rezensionen

 

Inhalt 2007/04

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig
jazzle gmacht: Entjazzt
no chaser: Ohrenfaulheit
jazzfrauen-abc: Anny Xhofleer


TITEL - Vom Verlassen des Wohnzimmers
Jazzfestivals und Tourismus


DOSSIER - Club Connection & Stargastspiele

Der Jazzclub Regensburg feiert sein 20. Jubiläum mit Festival

… und mehr im Inhaltsverzeichnis

Fire in the Soul and Warm Feet

Drei aktuelle englischsprachige Bücher zum Thema Jazz

Alan Robertson: Joe Harriott – Fire in his soul, Northway Publ., London, 225 Seiten

Der Altsaxophonist Joe Harriott nimmt eine Sonderstellung im europäischen Jazz ein. Geboren am 15.7.1928 in Kingston (Jamaika) verlor er beide Eltern schon nach wenigen Jahren. Er besuchte die von katholischen Schwestern geleitete Alpha Boys’ School in Kingston, wo zu seinem Glück Musik eine große Rolle spielte. Dort lernte er auch den Trompeter Dizzy Reece kennen, der schon vor ihm (1948) nach London ging und später (1959) in die USA. Joe Harriott begann mit zehn Jahren Klarinette zu spielen; später kamen Tenor- und Baritonsaxophon dazu, und schließlich konzentrierte er sich auf das Altsaxophon. Sein Vorbild war und blieb Charlie Parker, aber er hatte einen deutlich runderen Ton und ein anderes Vibrato. Er wurde bald ein gefragter Musiker, doch um weiterzukommen, musste er seine Heimat verlassen, und so ging er 1951 nach London. Hier fasste er bald Fuß und stieg bei Bands ganz unterschiedlicher Stilistik ein, sogar bei Ken Colyer. Diese erstaunliche stilistische Offenheit behielt er auch später bei (1961 und 1963 Aufnahmen mit Chris Barber). 1954 spielte er mit dem Tony Kinsey Trio, 1955 im leider nur kurz bestehenden Ronnie Scott Orchestra, 1957 nochmals mit Tony Kinsey. In Aufnahmen aus jener Zeit (auf der CD Killer Joe/GIANT STEPS RECORDINGS 020) kann man verfolgen, wie er innerhalb weniger Jahre zu einem Spitzenmusiker in Europa aufstieg.

1958 spielte er mit eigenem Quintett regelmäßig im neuen „Marquee Club“ und probierte auch schon eigene Ideen mit dem Trompeter Shake Keane aus (aufgewachsen auf der Karibikinsel St. Vincent und seit 1952 in London), der aber erst 1960 in die Band einstieg. Nunmehr erweiterte Harriott sein Bop-Repertoire um selbst geschriebene Stücke, bei denen nicht mehr über die Harmonien der Themen improvisiert wurde. Im Gegensatz zum damaligen Ornette Coleman Quartett, an das die Gruppe mitunter erinnerte, gab es aber mit Pat Smythe einen Pianisten, der sehr einfühlsam agierte. Beide Bands können nie miteinander verwechselt werden, selbst wenn man sich das Klavier wegdenkt. Joe Harriott betonte auch immer wieder, dieses Konzept, das er „Abstract Musik“ oder „Free Form“ nannte, unabhängig von Coleman entwickelt zu haben. Sehr wichtig war für ihn Shake Keane als mindestens gleichwertiger Partner.

Ihre Kollektivimprovisationen prägten den Sound der Band wesentlich, die als die Pioniergruppe des Free Jazz in Europa gelten darf. Auf zwei CDs („Free Form“ von 1960, REDIAL 538-184-2 und „Abstract“ von 1961–62/REDIAL 538-183-2) ist ihre Musik eindrucksvoll dokumentiert. Letztere Platte erhielt 1963 im „down beat“ eine hervorragende Kritik. Das hätte zu einem Karrieresprung führen müssen, aber es kam anders.

Das englische Publikum und – besonders ärgerlich – auch manche Musiker ließen die Band im Stich. Joe Harriott gab sein Konzept schrittweise wieder auf. Er beteiligte sich an der damals aufkommenden „Poetry and Jazz“-Bewegung und arbeitete später mit dem indischen Geiger John Mayer zusammen (CD „Indo-Jazz Fusions“ von 1966/REDIAL 538-048-2). Erstaunlich, dass er keinen Anschluss an die Ende der 60er Jahre durch jüngere Musiker in Gang gesetzte englische Free Jazz-Szene fand (oder suchte er ihn nicht?).

Um 1970 wurden die Auftrittsmöglichkeiten für ihn immer weniger; er hatte keinen festen Wohnsitz mehr und sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends, wozu auch wachsende Depressionen beitrugen. Joe Harriott starb am 2.1.1973 mit nur 44 Jahren. Sein ganzer Besitz – abgesehen von seinem Instrument – hatte in einem einzigen Koffer Platz.

Alan Robertson zitiert in seinem sehr lesenswerten Buch zahlreiche Musiker, die mit Joe Harriott gespielt haben. Sie sind sich vielfach darin einig, dass er schwierig und oft ziemlich verschlossen war, und sein Stolz ein ausgeprägter Charakterzug. Aber alle nannten ihn einen großartigen Musiker. Der Autor hat ihm ein würdiges Denkmal gesetzt. Jetzt fehlt nur noch die längst fällige Veröffentlichung der meisten seiner Aufnahmen auf CD.

John Chilton: Hot Jazz, Warm Feet, Northway Publ., London, 267 Seiten

Wie schön, dass John Chilton, von dem wir eine ganze Reihe ausgezeichneter Jazzbücher kennen, endlich einmal Zeit findet, über sich selbst zu schreiben. Geboren am 16. Juli 1932 in London, kam er mit zwölf Jahren durch eine Jelly Roll Morton – Aufnahme zum Jazz. Er begann, im Radio nach mehr von dieser faszinierenden Musik zu suchen und Informationen zu sammeln, und er fing an Kornett zu spielen.

Mit 17 wechselte er zur Trompete und hatte mit einer Amateurband erste Auftritte außerhalb Londons. Nach dem Militärdienst arbeitete er unter anderem in London für den „Daily Telegraph“ und spielte nebenbei. 1957 wurde er Berufsmusiker. Von 1958 bis 1963 war er Mitglied von Bruce Turners Jump Band (zwischendurch auch als Musiker auf der IBERIA während einer 5-monatigen Weltreise, die ihn bis nach Neuseeland führte). Danach arbeitete er in verschiedenen Gruppen, auch eigenen, daneben eine zeitlang in einer Agentur.

1967 eröffnete er mit seiner Frau Teresa in London den Bloomsbury Book Shop, der sich vor allem auf Jazzliteratur spezialisierte und dessen Versandgeschäft bald in Europa einen sehr guten Namen hatte. 1968 gründete er mit dem Klarinettisten Wally Fawkes die „Feetwarmers“, die er nach dessen Ausscheiden als Quartett mit dem Sänger und Komiker George Melly weiterführte (Tourneen in Europa, Asien, Amerika und Australien). Seitdem wieder als Freelancer tätig. Neben all dem fand er noch Zeit zu insgesamt 14 Büchern, darunter die Standardwerke „Who’s who of Jazz“ (alle wichtigen amerikanischen Jazzmusiker, die vor 1920 geboren sind) und „Who’s who of British Jazz“.

John Chilton erzählt mit Liebe zum Detail und mit viel Witz. Sein „Most Memorable Gig“, ein Auftritt mit Slim Gaillard, umfasst ein ganzes Kapitel und ist schon fast alleine den Kauf dieses Buches wert.

Eunmi Shim: Lennie Tristano – His life in music, The University of Michigan Press, Ann Arbor/USA, 316 Seiten

Endlich eine umfassende, auf eingehenden Recherchen basierende Biographie des Mannes, der wie wohl kein zweiter unter den großen Jazzmusikern sein Leben lang immer wieder missverstanden, kurzerhand abgelehnt oder auch einfach totgeschwiegen wurde. Die Gründe dafür sind vielfältig und können hier nicht behandelt werden – dafür ist das Buch da, das auch diesen Aspekt eingehend untersucht. Fest steht aber auch, dass Lennie Tristano zu den kreativsten Musikern zumindest der 40er und 50er Jahre gehörte.

Geboren am 19.3.1919 in Chicago, mit 10 Jahren völlig erblindet, erhielt er eine gute klassische Ausbildung als Pianist, spielte daneben auch andere Instrumente, insbesondere Tenorsaxophon. Mitglied verschiedener Gruppen, konzentrierte sich ab 1944 auf sein Trio. Erste Aufnahmen (Solo) 1945. In den folgenden Jahren wird eine eigene Spielweise immer deutlicher, für die komplexe Akkorde und Akkordfolgen, Polymetrik und Polyrhythmik, Kontrapunktik und lange Melodielinien charakteristisch sind, ebenso Kollektivimprovisationen mit anderen Melodieinstrumenten. Mit Vorliebe improvisierte er über die Akkorde von Standards, wobei er häufig neue Themen entwickelte, die wesentlich raffinierter waren als die originalen, oder er verzichtete gleich ganz auf ein Thema. 1949 nahm er mit seinem Sextett jene sechs Titel auf, die zu seinen Meisterwerken gehören, darunter mit „Intuition“ und „Digression“ die ersten Free Jazz-Stücke (siehe hierzu CD-Besprechung in der jazzzeitung vom Juni 2000). Von 1951 bis 1956 hatte er in New York ein eigenes Studio, in dem er vor allem unterrichtete (Musiker aller Instrumente, auch Schlagzeuger) und viele Sessions organisierte. Die Autorin (Assistenz-Professorin für Musik am Worcester Polytechnic Institute) widmete dankenswerter Weise diesem Teil seiner Arbeit ein eigenes Kapitel, für das sie viele seiner ehemaligen Schüler interviewte; ferner beschreibt sie Inhalte seines Unterrichts. Er war offenbar einer der ersten (oder der erste?), der über Beziehungen von Akkorden und Skalen nachdachte und Tritonus-Substitutionen lehrte.

1953 erschien seine Soloaufnahme „Descent into the Maelstrom“ (inspiriert durch ein Gedicht E.A.Poes), wieder ein völlig frei improvisiertes Stück, in dem er mittels Playback (auch hierin ein Pionier) mehrere Schichten übereinander legt. Das faszinierende Ergebnis (wilde Klanggebirge mit immer wieder aufleuchtenden Melodiespitzen) wirkt wie eine Vorwegnahme der Spielweise von Cecil Taylor um zehn Jahre.

Später machte er noch weitere Aufnahmen mit Playbacks, zwar nicht so radikal im Resultat wie diese, aber doch jedes Mal heftige Proteste in der Fachpresse hervorrufend.

Zudem nahmen die Auftritts- und Aufnahmemöglichkeiten nicht zu, sondern eher ab.

Tristano hätte einen Manager gebraucht, der sich so für ihn eingesetzt hätte wie Norman Grantz für Oscar Peterson und Ella Fitzgerald und einen Plattenproduzenten, der ihn so betreut hätte wie Alfred Lion etwa Horace Silver. Leider und unverständlicherweise kam Tristano auch erst 1965 zum ersten Mal nach Europa. Da war er schon sehr pessimistisch geworden. Am 18.11.1978 starb er 59-jährig.
Bemerkenswert ist, dass Charlie Parker ihn sehr schätzte („He’s a tremendous musician“, S.42), ebenso Leonard Bernstein („…an enourmous talent“, S. 84). Und sein Einfluss reichte weiter, als viele glauben.

Es ist an der Zeit, ihm den Platz in der Jazzgeschichte einzuräumen, der ihm längst gebührt. Daher ist zu hoffen, dass diese Biographie, die auch mehrere Transkriptionen enthält, bald auch auf Deutsch erscheint.

Joe Viera

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