Anzeige

Startseite der Jazzzeitung

Anzeige

Startseite der JazzzeitungZum Archiv der Jazzzeitung (Datenbanken und pdf)Zur Rezensionsdatenbank der JazzzeitungZur Link-Datenbank der JazzzeitungClubs & Initiativen Die Jazzzeitung abonnierenWie kann ich Kontakt zur Jazzzeitung aufnehmen
 

Jazzzeitung

2006/04  ::: seite 10

all that jazz

 

Inhalt 2006/04

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / News / break
no chaser:
Cover under Cover
all that jazz:
Bastard-Jazz und andere Gewinner
Jazzfrauen: Anita O‘Day
Farewell: Bayerns Jazz-Szene trauert um Hans Ruland


TITEL


Russian Rag & Boogie-Woogie
Pianist Martin Schmitt feiert sein 20-jähriges Bühnenjubiläum


DOSSIER:
HAWKINS

Der Gabriel des 20. Jahrhunderts
Erskine Hawkins und seine Orchester


BERICHTE
/ PREVIEW

Brad Mehldau Trio im Berliner Kammermusiksaal || Vernon Reid in Halle || Festival „voices“ in der Leipziger naTo || Larry Coryell im Nightclub des Bayerischen Hofs || Bürgermeister trafen sich in Neuburg || Preview: 22. Kemptener Jazz Frühling


 PORTRAIT / INTERVIEW

Krzysztof Komeda || The Bad Plus

 PORTRAIT / INTERVIEW

Kunstform Jazz
Jazz-Neuigkeiten aus der Semperoper Dresden
Diana, Jamie, Lizz und Götz
Betr.: „Nominierungen für Jazz Echo lösen Kontroverse aus“
Jazz im Hörfunk
Ein Gespräch mit Bernd Hoffmann, Jazzredakteur von WDR 3


 PLAY BACK / MEDIEN


CD. CD-Rezensionen 2006/04
Bücher: Neue Bücher über Bernstein, Oklahoma und den Schweizer Jazz
Bücher.
Ronald Sanders: The days grow short – the life and music of Kurt Weill
Noten. Noten für Saxophon, Trompete, Posaune und Klarinette
Instrumente. News


 EDUCATION

Ausbildung. Ausbildungsstätten in Deutschland - Fortbildungen, Kurse (pdf) (62 kb)
Abgehört 39 Soli von Herbie Hancock, Teil V: Meister der Ballade
Fragen zur Qualität
6. Internationale Tagung für Improvisation Luzern
SERVICE


Critics Choice

Service-Pack 2006/04 als pdf-Datei (Kalender, Clubadressen, Jazz in Radio & TV (250 kb))

Bastard-Jazz und andere Gewinner

Die Globalisierung begann früh. Selbst die Entdeckung Amerikas um 1500 war keine Premiere. Und immer gab es sofort Transfers, lebensdienliche und zerstörerische. Aus Amerika kamen die Syphilis und die Kartoffeln. Aus Europa die Grippe, der Alkohol und die Pferde.

Und woher kam der Jazz? Der kam immer schon von überall her. Ein typischer Bastard, mit der Tendenz, immer weitere Bastarde zu erzeugen. Sein Metier war dabei stets das Leben und der Tod. Und für seine Zwecke war ihm alles recht. In New Orleans zum Beispiel begann er marschierend, begleitete Hochzeiten, Beerdigungen und Feste aller Art. Er war mitten im Leben, aber nicht unbedingt sozialverträglich. Zu viel Schmerz, Wut, auch Wissen steckte in ihm.

„Race-music“, das war in Amerika lange Zeit der gebräuchliche Name für schwarze Musik. „Race-music“, das hieß: Musik der Unterschichten, der Erniedrigten und Beleidigten, und es klang in dieser Bezeichnung immer auch die Furcht der Privilegierten mit.
„Race-music“ reimte sich zumindest im schlechten Gewissen der Herrschenden auf Rebellion, ja Revolution. Von Anfang an wurde der Jazz weißgewaschen. Er hieß dann Dixieland oder Swing. Man wollte die Energie, die Vitalität des Jazz, aber nicht das Rohe, Wilde, das, was sich am Ende nicht beherrschen ließ. Adorno lernte den Jazz, weißgewaschen, im Radio kennen.

Seine Abneigung galt nicht „dem“ Jazz, sondern dieser bastardisierten Form. Dem Entertainment, das nur eins war: Lebenslüge, Kompensation. Und damit natürlich: die grinsende Maske, welche die Leere und Gewalt der verwalteten Welt verbarg. Bastardisierung kann immer beides bedeuten: Verharmlosung, Neutralisierung, Sterilisierung eines Stils, also die Verwandlung eines produktiven Impulses in Kulturindustrie. Oder aber: Ausweitung der Kampfzone, noch eine Wildnis des Herzens, wo das Unberechenbare sich ereignet.

Manchmal fällt die Unterscheidung gar nicht leicht: Anfang der 60er-Jahre etwa, als es zur großen Fusion des kühl gewordenen Jazz der Erstwelt-Metropolen mit der heißen, mal ungeniert sexuellen, mal todtraurig-melancholischen Volksmusik Lateinamerikas, speziell: Brasiliens, kam. Was ereignete sich da im weiten Terrain zwischen Stan Getz und Astrud Gilberto?
Unterm Strich wohl doch eine Fusion, die nicht Vernichtung von Musik durch ihre Vermischung war, sondern die Geburts-
stunde eines neuen Sounds und, mehr noch, Lebensgefühls. Wenn man böse wäre, könnte man sagen, das „girl from ipanema“ war der erste Replikant der Postmoderne, ein Traum vom wahren Leben, der die Distanz braucht.

Ein knappes halbes Jahrhundert später ist Jazz überall da, wo es brodelt. Der Latin-Sound der frühen 60er-Jahre war noch eine Weltmusik-Mode, die man bedienen und dadurch kontrollieren konnte. Im Jahr 2006 mutiert der Bastard-Jazz schneller als ein Vogelgrippe-Virus. Man könnte sagen: Er ist überall, Teil von allem. Und er erzählt, was für den nicht domestizierten Jazz immer schon das Wichtigste war, soziale Geschichten und handelt von der Politik des Tages. Wenn es sein muss, in festlicher, ausgelassener Form.

Trinidad & Tobago oder Barbados, das sind karibische Hexenkessel. Orte, wo vieles geschieht und sich noch mehr vermischt. Der Kampf nimmt dort andere Formen an als im kalten Europa. Auf diesen tropischen Inseln sind Feste das Zentrum, aber die Ausgelassenheit des Lebens ist nicht harmlos und vor allem nicht blind und taub. Wer dem tropischen Karneval zuhört, erfährt etwas über die Geschichte der Globalisierung. Was „die Menschen“ umtreibt.

Und was sie mitnehmen. Antrieb zum Tanzen ist nämlich nicht nur Samba und Soca. Auf den westindischen Inseln taucht plötzlich auf, was Kolumbus schon immer dort vermutet hatte: Das wirkliche Indien. Nicht als Glanz und Reichtum, nicht das Maharadscha- und Taj-Mahal-Indien, sondern das Indien der Wanderarbeiter, die auf den westindischen Inseln als Konkurrenten auftauchten, als die Schwarzen keine Sklaven mehr waren. Bei kapitalistischen, vertragsfreien Bilanzen geht es immer um Soll und Haben.

Der Käufer bestimmt den Preis. Und angestammte Rechte – noch dazu der Rechtlosen – zählen nicht. Die indischen Wanderarbeiter brachten ihre Musik mit. Und wie im alten New Orleans war es vor allem Hochzeits- und Begräbnismusik, Musik des Lebens und des Todes, kurz: Banghra. So wie Banghra aber auf Barbados praktiziert wird, ist Banghra Bastard-Jazz, eine unheimlich bewegliche Weltmusik, der aber lokale Erfahrungen eingeschrieben bleiben.
Die Musik zugleich der westlich-weißen Mittelstands-Kids, die von ihrer unmittelbar bevorstehenden Verarmung noch nichts wissen, und der zum Teil sehr gut ausgebildeten und doch weitgehend chancenlosen Jugendlichen mit, wie es heute politisch korrekt heißt, Migrations-Hintergrund. Beide hören Bastard-Jazz in allen Spielarten, der fast wie Weltmusik klingt, weil so viel an ihm hängt. Und man weiß nicht so genau, tun sie es aus purem, unschuldigem Vergnügen oder ist es schon der Soundtrack eines langsam wachsenden, noch diffusen Zorns.

Helmut Hein

| home | aktuell | archiv | links | rezensionen | abonnement | kontakt | impressum
© alle texte sind urheberrechtlich geschützt / alle rechte vorbehalten / Technik: Martin Hufner