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Ausgabe März 1998

Transatlantic frühere Ausgaben

TRANSATLANTIC
GABI'S CALLING


gwahlbri@student.berklee.edu
Gabi
Musiklehrerin für Saxophon und
Klavier an der Musikschule der
Stadt Regensburg, eine jazzbegei-
sterte, hochbegabte Musikerin,
aber auch Komponistin und Arran-
geurin. Sie fuhr zu einem Workshop
nach Perugia, stieg beim Abschluß-
konzert grippeumnebelt mit der
Workshopband aufs Podium und
kam mit einem Stipendium für
Berklee wieder herunter. Jetzt
studiert sie dort.


bayernjazz@t-online.de
Richard
ist Leiter des Bayerischen Jazz-
instituts und "Fachlicher Betreuer"
des Landesjugendjazzorchesters
Bayern.
Beide kennen sich seit Jahren, und
es erscheint uns nicht uninteressant,
was ihr Meinungsaustausch über
Amerika bringt.

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Gabi aus New York:
"... Ich möchte Euch nebenstehen-
des Foto von Benny Waters per
e-mail schicken... Ich habe ihn in
New York kennengelernt - seine
Bluspower mit 96 Jahren gehört
wirklich gefeiert... Er ist eine Seele
von Mensch.

7. Jan 1998 16:33

Liebe Gabi,

Seit einigen Monaten haben wir hier im Lande regelrechte Studentenunruhen, die sich bis zu Streiks auswuchsen. Auch die Schüler solidarisierten sich damit und schlossen sich mit Demonstrationen an. Nach Weihnachten wurde es etwas ruhiger. Die Situation ist aber noch keineswegs bereinigt. Die Streiks sind angeblich abgeschlossen, aber andere Maßnahmen sollen weiterhin durchgeführt werden. Erfahrt Ihr so etwas bei Euch oder sind das viel zu kleine Fische?Worum geht es? Die Studenten und Schüler kämpfen gegen den Bildungsabbau. Lehrpersonal soll gestrichen werden, ebenso Unterstützungen für die Studenten, die Bibliotheken können nicht mehr mit dem Notwendigen versorgt werden. Bei den Schülern ebenso: zu wenig Lehrkräfte, zu große Klassenstärken... Außerdem geht es aber beiden Gruppen auch um mehr Demokratie. Studenten und auch Schüler wollen bei der Gestaltung ihrer "Arbeits"-Bedingungen mitreden können. Sie fordern entsprechende Reformen. Den Forderungen - sie gelten allgemein als durchaus berechtigt - haben sich auch Professoren bzw. Lehrer angeschlossen.. Die Bundesregierung hat auch sehr rasch einige Millionen bereitgestellt – die waren in diesem, ach so notleidenden Land urplötzlich da, um so den größten Unmut zu dämpfen. Allzuviel geholfen hat dieses Trostpflästerchen allerdings nicht.

Interessant ist die Haltung der Bevölkerung. Sie ist in ihren Reaktionen durchaus gespalten. Die Mehrheit hält das alles wohl für Mumpitz und ist der Meinung, die Studenten sollten studieren statt zu demonstrieren und kommentiert das mehr oder weniger deftig in diesem Sinne. Was Wunder, wenn also diverse Politiker in das gleiche Horn stoßen, und die Verwaltungsorgane versuchen, alle – zumindest durch entsprechend großspuriges Gehabe – niederzumachen. So zieht die Polizei bei Demonstrationen in beachtlicher Stärke auf. Sie begründet das mit ihrer gesetzlichen Aufgabe, für Ruhe und Ordnung sorgen zu müssen. Außerdem würden dadurch auch die Demonstranten geschützt. Das Bild hier Schüler – dort gut gerüstete Polizei macht natürlich schon Eindruck, vor allem auf die ersteren. Es stimmt bei der Geschichte unseres Landes aber auch recht nachdenklich und läßt wieder einmal die Frage nach der Belastbarkeit der Verankerung der Demokratie in unserem System aufkommen.Gott sei Dank gibt es auch einige, allerdings halt wieder einmal relativ wenige Leute, die der Meinung sind, daß hier Chancen vertan werden, gerade der Jugend gegenüber demokratisch bestimmtes Verhalten zu zeigen, Demokratie mit jungen Leuten zu praktizieren. Wobei dies um so wichtiger wäre, da eben dieser Jugend ständig vorgeworfen wird, daß sie sich politisch nicht engagiert. Jetzt tut sie es und findet nicht einmal Gesprächspartner, sondern nur Ausflüchte, Drohungen und Pressionen, Demonstration von Autorität. Einige wenige sehen in dem Vorgehen der jungen Generation auch einen Hoffnungsschimmer in dieser so satt und unbeweglich gewordenen Gesellschaft, nach dem Motto "wenn wir Alten schon nicht mehr die Kraft zu Veränderungen haben, vielleicht schaffen es die Jungen". Jedenfalls wehren sich noch welche – einige sogar öffentlich – gegen die Vereinnahmung, gegen Kommerz und reines Machtdenken, gegen die zunehmende Kälte.Die Studenten nehmen sich, ihre Argumente und Vorgehensweisen durchaus kritisch unter die Lupe. So habe ich harte Urteile über Veranstaltungen gehört, die mit Glühwein und allerlei Firlefanz Demonstrationen in Richtung Volksfest schoben. Die das Verurteilenden verrieten dabei viel Bewußtsein für andere Bevölkerungsteile und deren schwierige Situationen. Solche Stellungnahmen signalisierten sehr viel soziales Verantwortungsbewußtsein. Jedenfalls schienen mir die Probleme der sozial Schwachen im Lande, der Arbeitslosen beispielsweise, hier oft viel hautnaher empfunden als in den Sonntagsreden unserer Politiker, die natürlich voller Lippenbekenntnisse sind.Wißt Ihr davon? Gibt es so etwas auch in Amerika oder hat dafür niemand Zeit? Bei uns zeigte sich im übrigen, daß die am lahmsten reagierenden, am schwierigsten in Bewegung zu setzenden Studenten, die Musiker sind. Trotz aller leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit sind sie immer noch der Meinung, sie könnten unpolitisch sein. Sie halten Üben für wichtiger, als Kämpfen für lebenswerte Bedingungen in einer immer barbarischer werdenden Umwelt. Sie wollen einfach nicht wahrhaben, daß die Entwicklungen auch ihre ganz persönlichen Lebensumstände beeinflussen wenn nicht bedrohen.Sind solche Überlegungen auch bei Euch irgendwo vorhanden? Gerade Jazzmusiker haben ja oft einen sehr direkten Bezug zu solchen Problemkreisen, haben auch immer wieder in den verschiedensten Formen dazu Stellung genommen.

Mit herzlichen Grüßen aus irgendwie vielleicht doch erwachenden deutschen Landen,

Dein Richard

25. Jan 1998 19:49

Hallo lieber Richard,

gerade habe ich Deinen Brief ausdrucken können (wir hatten ein paar Probleme auf unserer Computerstation), und es erstaunt mich schon sehr, was alles so in meiner Abwesenheit plötzlich zuhause passiert ist. Ob man hier von den Demonstrationen und Diskussionen in Deutschland hört, wage ich nicht zu beurteilen, da ich nur einmal am Tag die Nachrichten im Radio verfolge. Ich habe hier von der Entwicklung in Deutschland jedenfalls nichts mitbekommen.

Kaum ist man ein paar Wochen der Heimat entflogen, schon gehen die Leute auf die Straße und äußern ihren Unmut über den Bildungsabbau. Richtig so. Es kann gar nicht kraftvoll genug gesagt werden, daß eine Verschlechterung der Ausbildungsmöglichkeiten der falsche Weg ist, sei das Land auch noch so arm. Die Konsequenzen kriegt man nämlich erst später serviert. Einer Verbesserung der Verhältnisse im Sinne von Veränderung hingegen ist immer zuzustimmen, und da wünschte ich unserem Land eine dicke Portion mehr Flexibilität und Spontaneität.

Ich fange gerade an, die Verhältnisse hier in Boston etwas kennenzulernen und zu erleben, und es ist schon furchtbar zu sehen, daß das Haus, in dem ich gerade bin (Berklee College Of Music), und viele andere mehr nur denen offen stehen, die in der Lage sind, jedes Jahr etwa 65.000 Mark Studienkosten auf den Tisch zu blättern. Stimmt man der Entwicklung einer solchen Ausbildungssituation zu, sei es aus Gründen der Privatisierung oder sonstiger Sparmaßnahmen, sagt man auch gleichzeitig ja zur Chancenungleichheit. Abgesehen von der Situation für die Studierenden werden auch die Dozierenden hier nicht gerade mit Gold überschüttet. Dozenten, die jedes Semester von neuem ihre hohe Qualifikation beweisen, scheinen sich hier in erster Linie zu treffen, weil sich sehr viel Wissen unter diesem Dach sammelt. Krankenhausreife Lehrer schleppen sich noch in den Klassenraum, um dem Fallbeil der Be(Ver)urteilungskommission zu entkommen. Wenn man bedenkt, wieviel Geld in so manch andere Richtung fließt, ist eine solche Entwicklung nicht akzeptabel und menschenunwürdig.

Die Inhalte hingegen, die hier vermittelt werden, sind bewundernswert beweglich. Tauchen Fehler im Konzept auf, werden sie verbessert (egal ob der Fehler vom Dozenten, Studierenden oder dem Hausmeister entdeckt wurde), haben sich Dinge weiterentwickelt, wird nicht am "Alten" doch so gut "Bewährten" festgehalten, sondern man geht mit frischem Schritt an die Umsetzung des Neuen. Man scheint hier keine Mühen zu scheuen, das Bessere gewinnt einfach, so sollte es sein.

Die Studierenden haben am Ende jeden Semesters die Möglichkeit, ihre Dozenten zu beurteilen, was sich nicht unerheblich auf den Beliebtheitsgrad der Lehrer auswirkt. Zum Teil soll die Mitbestimmung hier im Lande allerdings schon solche Formen angenommen haben, und da stütze ich mich auf einen Bericht über die Situation an einer amerikanischen allgemeinbildenden Schule, daß das Mitspracherecht von Eltern plötzlich um Wegfall wesentlicher zur Grundausbildung gehörender Fächer geführt hat. Die langjährigen Erfahrungen einer Fachkommission sollten doch Wegweiser für inhaltliche Entscheidungen bleiben.

Im letzten Jahr hat es eine interessante Radiosendung hier in Boston gegeben, die zum Thema Kulturabbau paßt. Nachdem man hier den Musik- und Kunstunterricht in den Schulen gestrichen hat und selbst die Musikinstrumente aus den Schulen entfernt hat, mußte man folgende Feststellungen machen. Laut des "Department of Education" hatte dieser Schritt erhebliche Verhaltensstörungen bei Schülern zur Folge. Eine Zunahme von aggressivem Verhalten und Kriminalität wurde festgestellt. Statistiken sagen zudem aus, daß Kinder, die eine musikalische Ausbildung erfahren haben, sich generell später besser im Leben zurechtfinden. Sie weisen ein besseres mathematischen Denken auf, haben erhöhte Fähigkeiten sowohl im visuellen Bereich als auch in wissenschaftlichen Fachgebieten. Es bleibt also nicht einfach beim Einsparen einiger oft für so überflüssig gehaltener Schulstunden. Das Abschneiden einer kulturellen Ausbildung wirkt später zurück auf viele Lebensbereiche, ein nicht leicht zu nehmender Bumerangeffekt.

Die Privatschulen waren die ersten hier, die das "comeback" der Kultur in ihr Ausbildungssystem gefeiert haben. Es wäre ja nur zu schön, wenn wir nicht die gleichen Fehler, die andere schon hinter sich gebracht haben, erneut durchstehen müssten. Gerade komme ich von einer viertägigen Konferenz für Musikpädagogen, die in New York stattfand, zurück. Die Vielfältigkeit, Energie und Bedeutung dieses Fachgebietes/Lebensbereiches ist so groß, daß es mir unerklärlich ist, wie man an eine Verkürzung dieses Ausbildungsbereiches überhaupt denken kann. Es ist schon verblüffend, in welchem Kontrast eine offensichtlich pädagogische Notwendigkeit (das Vermitteln kultureller Werte) zu politischen Entscheidungen stehen kann.

Demnächst muß ich Dir aber von der internationalen Konferenz in New York erzählen, es war eine aufregende, energiereiche, inhaltlich vollgestopfte knappe Woche.

Bis dahin viele Grüße aus Boston Richtung Osten

von der Gabi bye bye

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