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Jazzzeitung

2005/09  ::: seite 22-23

dossier – guadeloupe

 

Inhalt 2005/09

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / News / break
no chaser:
Die abgekürzte Zukunft
all that jazz:
Die Extreme berühren sich
jazzfrauen-abc: Sheila Jordan
Farewell: In memoriam Albert Mangelsdorff


TITEL / DOSSIER


Titel: Dem Weg des Sounds folgen
Die Polin Anna Maria Jopek: ein neuer Star am Gesangshimmel
Dossier:Heimat von Gwo Ka und Zouk
Guadeloupe harrt seiner Entdeckung durch Jazzfreunde


BERICHTE
/ PREVIEW

Neueröffnung des Polnischen Instituts in Berlin // Görlitzer Altstadt im Jazzfieber // Jazz im Audi Forum Ingolstadt // 34. Moers-Festival // 24. Bayerisches Jazzweekend // Festival „Jazz an der Donau“ // 12. New Orleans Music Festival in Wendelstein


 JAZZ HEUTE

Gemeinsam auf Stimmenfang
Ein neues Jazzfestival aller Initiativen in Nürnberg
Vogelparadies
Joe Zawinul und das Birdland Wien


 PORTRAIT / INTERVIEW


Saxophonist Alejandro Sánchez // Trompeter Paul Brody // Oscar Peterson // Karolina Strassmayer – die erste Frau in der WDR Big Band // Thilo Bergs Label Mons Records


 PLAY BACK / MEDIEN


CD. CD-Rezensionen 2005/09
Bücher. Neuerscheinungen über die „Erfinder“ des Jazz, Jazz in der DDR und Klassiker
Bücher. Buch zum mentalen Training für Musikerinnen und Musiker
Noten. Neues Notenmaterial für Mandoline, Bands und Trompete
Noten. Ack van Rooyen: The Way I Play – 11 Solos for trumpet/flugelhorn in Bb
Instrumente. Ayers Elektroakustik


 EDUCATION

Fortbildung // Ausbildungsstätten in Deutschland (pdf)


SERVICE


Critics Choice

Service-Pack 2005/09 als pdf-Datei (Kalender, Clubadressen, Jazz in Radio & TV (303 kb))

Heimat von Gwo Ka und Zouk

Guadeloupe harrt seiner Entdeckung durch Jazzfreunde

München, November 2004: David Murray, einer der großen alten Saxophonisten, Veteran der New Yorker Loft-Szene, ist in der Unterfahrt zu Gast. Es wird ein mitreißender Abend, nicht zuletzt, weil Murrays markanter Ton in ungewohnte, eigenwillig treibende Rhythmen eingebettet ist. Hat er doch bei seinem Projekt „Gwotet“ zum zweiten Mal die „Gwo Ka Masters“ Klod Kiavue und François Ladrezeau aus Guadeloupe mit an Bord. Ich habe mir dazu das passende Festival-T-Shirt – Montreux hat schließlich jeder – angezogen: „Jazz á Point-à-Pitre“ steht da im recht kryptischen Logo, das wohl eine archaische Version eines Saxophonisten darstellen soll. Klod und François freuen sich nachher in der Garderobe darüber, jeder andere dürfte sich fragen, wer oder was Point-à-Pitre ist. Und selbst die Antwort „der größte Ort in Guadeloupe“ dürfte den Wissensdurst nicht sonderlich stillen.

Also kurz die Eckdaten: Guadeloupe, eine schmetterlingsförmige Doppelinsel (Grand Terre und Basse Terre), ist ein französisches Übersee-Departement (also französisches Staats- und damit EU-Gebiet) mit etwa 410.000 Einwohnern und liegt in der Karibik auf mittlerer Höhe der Kleinen Antillen. Es herrscht Tages- statt Jahreszeitenklima, das heißt, es ist rund ums Jahr gleich schön, mit 26 bis 34 Grad. Religion: offiziell römisch-katholisch, in Wirklichkeit katholisch-abergläubisch, ebenso wie die Amtssprache Französisch im Alltagsleben vom Kreyole überdeckt wird. Die Bevölkerung ist bunt gemischt, in allen farblichen Abstufungen vom normannischen Weiß der „blanc matignons“ über die dezente Bräune der „chabines“ bis zum tiefen Schwarz der „negres“, 15 Prozent sind indisch-stämmig. Was in Bayern das Bier ist, ist dort der Rum, und wichtiger als alle anderen kulturellen Spielarten ist: Musik.

Konservativ und rebellisch

Saint Anne, Guadeloupe, im Januar. Hier an der Südküste von Grande Terre, der touristischen „Riviera“ von Guadeloupe, sind die Gegensätze besonders spürbar, die die Insel als französisch-karibisch-asiatische Mischkultur seit jeher prägen, sich nun aber mit der „mondialisation“ (wie die Franzosen die Globalisierung nennen) immer deutlicher auftürmen. Wie im Zeitraffer wurde hier in wenigen Jahren der Lebensstil der westlichen Zivilisation adaptiert, löste das Auto den Karren oder das Moped ab, und das Einfamilienhaus (oder auch das durchaus üppige Apartment des sozialen Wohnungsbaus, wie er vom alimentierenden Paris großzügig gefördert wird) die „case creole“, also die winzige Holzhütte, in denen bis vor kurzem die Großfamilie lebte. Auch das „Crik Crac“, das nächtliche Geschichtenerzählen, oft zu Trommeln und Gesang, ist von Radio und Fernsehen weitgehend verdrängt.

Trotzdem, weil der Guadeloupäer im Kern konservativ, zugleich aber selbstbewusst und etwas rebellisch ist, endet der Konflikt oft in einer Melange, gerade, was die Musik angeht. So mag aus den von Festlandsfranzosen gemieteten Ferienwohnungen in Saint-Anne der Pop-Mainstream dröhnen, jetzt, in der Karnevalszeit, wird er konsequent von den Percussion-Truppen der Karnevalsvereine überdeckt. Seit man in den 60er-Jahren das Spiel mit bunter Maskerade wiederentdeckte, ist es zu einem prägenden Element geradezu rheinländischen Umfanges geworden, allerdings als reine Freiluftveranstaltung, bis in den April hinein und viel mehr auf Musik und Tanz ausgerichtet. Wenn gerade kein Umzug ist, dann wird geübt – Ehrensache noch für die kleinsten Buben, die mindestens mit demselben Eifer bei der Sache sind wie ihre Altersgenossen in Brasilien.Und wieder sind da diese eigenwillig federnden Rhythmen des Gwo Ka, wie sie in ganz anderem Rahmen in der Unterfahrt zu hören waren.

Mix aus Swing und Karibik

Gosier, ein paar Kilometer weiter. Auf der Rückfahrt bleibe ich bei einem „Ti Lolo“ (kleine Krämerläden mit Ausschank) hängen, weil dort zehn, zwölf Trommler, Percussionisten, Bassisten und Gitarristen eine Menge Krach machen. Der Besitzer hat Geburtstag, und so wird in immer wieder durchgewechselten Besetzungen gespielt und improvisiert, mit einem mindestens 80-Jährigen am Mikrophon, der den – vom Thema her meist eindeutig zweideutigen – kreolischen Liedern einen beeindruckenden Zauber verleiht. Bei ihm mischt sich in die Rhythmik des Gwo Ka der Beguine, die berühmteste karibische Jazzform, die als Mix aus Swing und karibisch-lateinamerikanischen Elementen vom Schwesterdepartement Martinique aus von den 20er-Jahren an Paris eroberte und dort noch heute ihren Stammsitz in Lokalen wie dem „La Cigale“ oder dem „Relais Creole“ hat.

Der Trompeter Franck Nicolas

Der Trompeter Franck Nicolas

Die berühmtesten Jazzer Guadeloupes kann man dem Beguine zurechnen: Der Gitarrist und Posaunist Albert Lirvat und sein Freund, der Holzbläser Robert Mavouzny. Was freilich wie bei fast allen, die „Karriere“ machen, bedeutet, dass sie in Paris leben. Lirvat und Mavouzny übersiedelten bereits Mitte der 30er-Jahre, auch ihre Schüler und Nachfolger wie der Gitarrist André Condouant (der kurioserweise seine französische Karriere erst nach längeren Aufenthalten in Schweden und Deutschland in Gang brachte), der Pianist Alain Jean-Marie, der Bassisten Eric Vincenot oder der Trompeter Franck Nicolas zog es unausweichlich in die „metropole“. Nur dort im unerschöpflichen Fundus der französischen Jazzer fanden sie die Mitstreiter für ihre Ideen, kamen sie auch mit der internationalen Szene in Kontakt. Erroll Garner, Ben Webster, Chet Baker, Ray Baretto, Lee Konitz und so weiter, wie ein who is who auch des amerikanischen Jazz liest sich die Liste der Stars, mit denen die oben Genannten spielten. Und selbst ein so bodenständiger und explizit politischer Sänger wie Guy Konket, der als Kind Ende der 50er-Jahre noch Zuckerrohr auf der Plantage schnitt, fand sein Publikum erst in Paris.

Alain Jean-Marie

Alain Jean-Marie

Dahin hat es der alte Mann am Mikrophon nie geschafft. „Das ist aber ein berühmter Sänger von früher. Die Alten hier kennen ihn alle noch“, erklärte mir mein Schwiegervater Simon. Unwillkürlich muss ich an die alten Herren vom Buena Vista Social Club denken. Wie viele ähnlich urige und talentierte Veteranen mögen in Guadeloupe und anderswo in der Karibik wohl einer Wiederentdeckung harren? Hier wird die Zeit wohl einen potentiellen Ry Cooder oder Nick Gold besiegen.

Produzent, Distributor, Manager

Point-à-Pitre, Anfang Februar. Was seit den frühen 80er-Jahren die dominierende guadeloupäische Musik ist, davon kündet eindeutig die üppige Beschallung der Rue Frebauld, der geschäftigen Einkaufsstraße in Point-à-Pitre. Nicht nur die zwei Plattenläden von Henri Debs, der sich vom Beguine-Komponisten und -Interpreten zur wichtigen Hintergrundfigur der hiesigen Musikszene (als Produzent, Distibutor und Manager) aufgeschwungen hat, spielen „Zouk“. Das Etikett Zouk pappt heute auf Klängen verschiedenster Art, vom Schlager bis zum Rock, auf allem, was auf den unzähligen Festen oder auf RFO, den staatlichen Rundfunk- und Fernsehprogrammen für die Übersee-Departements gespielt wird. Radiostationen heißen so, und selbst ein Verb für Musizieren ist davon abgeleitet worden. Das meiste davon hat abgesehen von den kreolischen Texten und den Basisrhythmen nur noch wenig mit dem zu tun, was die „Erfinder“ des Zouk Ende der 70er-Jahre damit beabsichtigten. Die Bands Ma-lavoi, vor allem aber Kassav reicherten die kreolische Musiktradition aus Gwo Ka und Mazurkas mit moderner Instrumentierung und einer Vielzahl von Einflüssen an: Vom Reggae und Salsa der Nachbarschaft über Jazz-Elemente bis zu europäischem Rock. Noch heute ist Kassav eine der produktivsten Formationen – die Soloprojekte der Mitglieder eingerechnet wie etwa das ausgezeichnete Album „Sophrosyne Blues“ von Jacob Desvarieux –, die in Paris vor bis zu 300.000 Zuschauern spielt.

André Condouant

André Condouant

Wo das losging, sieht man, wenn man die Rue Freboult ganz hochgeht: das centre des arts steht da, ein selten hässlicher Betonklotz aus den 70ern, wo nichtsdestotrotz – neben den Sälen des „Artchipel“ in Basse Terre – das Herz der subventionierten Inselkultur schlägt. Hier oder im ähnlich schmucklosen Salle Henri Salvador, einer zwischen Point-á-Pitre und Gosier in den Mangroven gelegene Halle, kann man auch regelmäßig internationale Stars bewundern. James Brown, Marcus Miller, Dianne Reeves und Kassandra Wilson etwa waren im zurückliegenden halben Jahr hier. Und einige Jahre lang beherbergte der Bunker eben das auf T-Shirts verewigte Jazz-Festival im Dezember, bei dem sich neben allen einheimischen Größen auch Stars wie Archie Shepp sehen ließen. Jetzt ist es abgelöst durch das LaKasa Jazz Fest in La Jaille im Januar, bei dessen Erstauflage gerade Richard Bona und Malia zu Gast waren. Und es ist nicht das einzige Festival, das sich neben kleineren Clubs wie das Bik Kréyol und das Autour de Minuit in Baie-Mahault, das Chez Nous und das Au P’tit Paris in Gosier und einige andere um Jazz und Verwandtes kümmert.

Blues Festival de Marie-Galante

Marie-Galante, Anfang Februar. Wie ich dürften schon einige Blueser oder Jazzer wie die Holmes Brothers oder Eddie Palmieri per Expressfähre auf das zu Guadeloupe gehörende, vorgelagerte Inselchen Marie-Galante übergesetzt haben. Sechs Mal fand dort im Mai schon das vom Kassav-Mastermind Pierre-Edouard Decimus gegründete und betreute „Créole Blues Festival de Marie-Galante“ statt, ein geeigneter Ort also für die Spurensuche nach den Wurzeln der guadeloupäischen Musik.

Fand sein Publikum erst in Paris: Guy Konket. Fotos: Jazzzeitungsarchiv

Fand sein Publikum erst in Paris: Guy Konket. Fotos: Jazzzeitungsarchiv

Blättert man die Festival-Programme von hier oder den von Decimus installierten Ablegern wie der „Nuit des Rythmes Mélés“ oder den „Voix Sacrées“ in Baie-Mahault durch, wird zur Gewissheit, was sich bei jeder anderen Berührung mit guadeloupäischer Musik schon andeutete: Der Gwo Ka ist der Blues der Insel, der Schlüssel zu allen musikalischen Aktivitäten, von den bereits genannten wie auch die ersten modernen Jazzbands in den 60er-Jahren wie den „Vikings of Guadeloupe“ oder „Les Gentlemen“.

Benannt nach den dabei benutzten Handtrommeln ist der Gwo ka wie der Blues der amerikanischen Südstaaten eine aus der Zeit der Sklaverei geborene Volksmusik: Sieben wesentliche Rhythmen, diese wiederum variiert, meist im formalen Gewand einer Mazurka ergeben zusammen mit den Färbungen der verschiedenen Percussions-Instrumente eigenwillig pulsierende Linien. Alles ist auf Bewegung und Tanz ausgerichtet, weshalb man gar nicht vermuten würde, wie klagend die Gesänge vom harten Leben auf der Plantage oder dem noch härteren als entlaufener Sklave („neg marron“) auf kreolisch erzählen.

Bis heute wird der klassische Gwo Ka gepflegt und von virtuosen Ensembles wie Akiyo für Touristen wie Einheimische mit Tanz aufgeführt. Interessanter aber sind die aktuellen Strömungen. Fast alle namhaften Jazz-Musiker und Bands greifen derzeit unter dem Überbegriff Jazz Ka wieder auf diese Wurzeln zurück. Und selbst der blutjunge „Admiral T“ (Bürgerlich Christy Campbell), der erste Guadeloupäer, der jüngst in die Starriege der französischen Rapper aufgestiegen ist, beruft sich mit seinem Kollektiv „Karukera Sound System“ auf das Erbe des Gwo Ka.

Reise zu den Wurzeln

Kassav mischen die Musik Guadeloupes mit Jazzelementen. Fotos: Archiv

Kassav mischen die Musik Guadeloupes mit Jazzelementen. Fotos: Archiv

Zurück in Point-à-Pitre, Ende Februar. Als ich vom Fährhafen durch die kleine Fußgängerzone Richtung Markt gehe, sind die Trommeln schon von weitem zu hören. Eine Gwo Ka-Truppe spielt Straßenmusik und verkauft selbst gebrannte CDs. Neben der Menschentraube entdecke ich Klod Kiavue. Es stellt sich heraus, dass dies hier seine alte Gruppe ist. Auch eine Reise zu den Wurzeln. Er lädt mich zu sich nach Hause ein, doch morgen fliege ich zurück.Wenige Tage später geht es für ihn nach Paris, David Murray wartet.

Schwarz und Weiß

Nachtrag. Nochmal zum eingangs erwähnten T-Shirt: Ich sah es zuerst auf dem Flughafen, ein stattlicher Schwarzer mit Instrumentenkoffer trug es. Da war das Festival leider schon vorbei. Doch im Büro des „Service des affaires culturelles de Point-à-Pitre“ musste ich nicht lange betteln. Einem offensichtlichen Jazz-Fan von so weit her drückte man anstands- und kostenlos gleich zwei T-Shirts in die Hand: eines schwarz und eines weiß. Was man in vielerlei Hinsicht für symbolisch halten darf.

Oliver Hochkeppel

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