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Jazzzeitung

2003/12-2004/01  ::: seite 22-23

dossier - Der vergessene Kritiker

 

Inhalt 2003/12-2004/01

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / News / break
musiker-abc:
Lennie Tristano
no chaser:
Domino
jäzzle g’macht
: Applausordnung (AT)
farewell: Zum Tod von Peter Niklas Wilson


TITEL / DOSSIER


Titel: Daxophone und Turntables
40. Jazzfest Berlin bewegt sich zwischen Varieté und Experiment
Dossier: Der vergessene Jazzkritiker
Sexualforscher Ernest Bornemann


BERICHTE


Berichte aus
Bayreuth / Berlin 1 / Berlin 2 / Elmau / Ingolstadt /Regensburg / Ruhrgebiet


 JAZZ HEUTE


Wolfgang Dauner im Gespräch mit der Jazzzeitung
Workshop Jazz Juniors in Marktoberdorf
Das Münchener Bistro St. Ursula


 PORTRAIT / INTERVIEW


Pat Martino // Robin Draganic // McCoy Tyner // Mike Stern


 PLAY BACK / MEDIEN


Winter & Winter im Winter. Die Münchner Music Edition erweitert das Angebot
CD. CD-Rezensionen 2003/12-2004/01
Bücher. Erinnerungen der Mingus-Witwe Sue Graham // Reclams neues Jazzlexikon // Monk und der Free Jazz
Noten. Noten für Jazzrocker und Piano Heroes
Instrumente. Gibson Les Paul Platinum
Medien. link-tipps


 EDUCATION


Abgehört 21. Pat Metheny und Joshua Redman als kongeniales Team
Bayerns beste Botschafter
Die Lehrer Big Band Bayern feiert zehnjähriges Bestehen
Ausbildung. Kurse, Fortbildungen etc.


SERVICE


Critics Choice

Service-Pack 2003/12-2004/01 als pdf-Datei (kurz, aber wichtig; Clubadressen, Kalender, Jazz in Radio & TV, Jazz in Bayern und anderswo (695 kb))

Der vergessene Jazzkritiker

Sexualforscher Ernest Bornemann · Von Hans-Jürgen Schaal

Einer der einflussreichsten und profundesten Jazzexperten des 20. Jahrhunderts wurde in Berlin geboren und starb in Oberösterreich. Dennoch ist Ernest Borneman bei uns als Jazzkritiker kaum bekannt. Er wirkte im Exil, schrieb auf Englisch und verabschiedete sich 25 Jahre vor seinem Tod vom Thema Jazz. Zeit für eine Wiederentdeckung.

1935 mit seiner Frau Eva in der Kommune Hermitage, London. Foto: privat

Vor mehr als 30 Jahren produzierte Joachim-Ernst Berendt, der führende Jazzpublizist im Nachkriegsdeutschland, eine Plattenserie unter dem Motto „Jazz Meets the World“. Damit legte er einen wichtigen Grundstein für die Weltmusik-Bewegung und die Emanzipation des Jazz von seinen nordamerikanischen Wurzeln. Im Zusammenhang mit dieser Serie bereiste Berendt damals die Karibik und schrieb darüber einen Aufsatz mit dem Titel „Der kreolische Raum“, der auch in seine Essay-Sammlung „Ein Fenster aus Jazz“ aufgenommen wurde (1977). Der Aufsatz beschreibt New Orleans als „die nördlichste Großstadt“ der Karibik und den Jazz als einen Verwandten von Reggae, Calypso und Bel Air, hervorgegangen aus derselben „kreolischen“ Mischung von afrikanischer und französisch-spanischer Tradition. Berendt erwähnt darin, wie sehr ihn das Vibrato eines 96-jährigen Klarinettisten auf Martinique an das Spiel Sidney Bechets erinnerte. Im Vorwort des Essay-Bands verrät er: „Auf den ,kreolischen Raum’ als musikalische Einheit hat meines Wissens bisher nur Ernest Borneman hingewiesen (...), als er noch Jazzkritiker beim ,Melody Maker’ war; weil ich gelesen hatte, was er damals geschrieben hat, bin ich hingefahren.“

Ernest Borneman (1915-1995) ist heute fast nur noch als Sexualforscher ein Begriff. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören das „Lexikon der Liebe“ (1968), „Sex im Volksmund“ (1971), „Psychoanalyse des Geldes“ (1973), „Das Patriarchat“ (1975) oder „Das Geschlechtsleben des Kindes“ (1985). Schon mit 17 arbeitete er zwar in Wilhelm Reichs Arbeitersexualklinik in Berlin mit, doch zum Sexualwissenschaftler wurde er erst 30 Jahre später, als er nach langem Exil endlich nach Deutschland zurückkehrte. Damals begann er seine Studien zur Kinderpsychologie und Kindersexualität und unterrichtete schließlich in Österreich „unter dem Deckmantel der Libidotheorie“ zehn Jahre lang Sexualwissenschaft.

Doch das war nur die letzte der verwirrend vielen Facetten in Bornemans geistiger Aktivität. „Der gemeinsame Nenner für die Aspekte meines Lebens ist eine irrsinnige Neugier“, meinte er noch kurz vor seinem Tod bei einem Pressegespräch in Berlin. „Nur wenn du hin- und hergeschüttelt wirst zwischen verschiedenen Dingen, bewahrst du dich vor der Verknöcherung.“ Zu diesen „verschiedenen Dingen“ gehörten – unter anderem – das Verfassen von sechs Romanen, zwei Bühnenstücken, etlichen Literaturkritiken, dazu Studien der Psychoanalyse, Film- und Fernseharbeit vor allem in England und Kanada (etwa als Kameramann und Regieassistent bei den ersten Live-Fernsehübertragungen, als Lektor, Dokumentarfilmer, Drehbuchautor, Szenarist, Regisseur, Produzent, Programmdirektor), dann Leitung der UNESCO-Filmabteilung in Paris, schließlich Aufbau und Programmdirektion des deutschen Freien Fernsehens, des späteren ZDF. Zurückgekehrt galt Borneman als „der publizistisch wichtigste Mann in ganz Deutschland“.

Ach ja, und dann war da eben noch der Jazz. „Jazz war eine der frühesten und echten Neigungen“, meinte Borneman am Ende seines Lebens. „Vieles Spätere kam durch den Druck der Verhältnisse und die einmalige Chance zustande. Wäre Hitler nicht an die Macht gekommen, wäre ich möglicherweise heute emeritierter Professor für Musikwissenschaft in Deutschland.“ So aber fand Bornemans Beschäftigung mit Jazz weitestgehend im Exil statt – in London, Kanada, Paris –, und fast ausschließlich auf Englisch. Der Jazz war aber beileibe keine Nebensache für ihn: Borneman hörte, forschte und schrieb mit ganzem Herzen, enzyklopädischer Universalität, publizistischer Sorgfalt und wissenschaftlichem Pioniergeist. In der Begegnung mit dem Jazz fühlte er sich als Kulturanthropologe. Schon der Student begann 1933 in London mit ersten Notizen, die bald zu einer gewaltigen Gesamtdarstellung des Jazz anwachsen wollten. An dieser musikwissenschaftlichen und diskografischen Jazz-Enzyklopädie, die er 1940 in einer ersten Version abschloss, arbeitete er mit Unterbrechungen sogar bis 1971, als er auch den neuesten Free Jazz berücksichtigte. Er war Mitherausgeber des amerikanischen Jazzmagazins „The Record Changer“, für das er drei Jahre lang zwei regelmäßige Kolumnen schrieb. Um 1948 arbeitete er als Paris-Korrespondent für „Down Beat“ und „Variety“. In den 50er-Jahren schrieb er gar für mehr als ein Dutzend Jazz-Zeitschriften in Amerika und England und hatte jahrelang feste Kolumnen in „Melody Maker“ und „Record Review“.

Für den amerikanischen Jazzpublizisten Nat Hentoff war Borneman damals „einer der weltweit führenden Jazzkritiker und Jazzgelehrten“. Dem Musikarchiv der Stiftung Akademie der Künste in Berlin überließ Borneman1995 etwa 80 Kilogramm beschriebenes Papier nur zum Thema Jazz: mehrere Typoskript-Versionen seiner Enzyklopädie, dazu Sammlungen seiner gedruckten Kolumnen, Platten- und Buchrezensionen, Einzelaufsätze, Radiomanuskripte, Stoffsammlungen. Kaum etwas davon ist je auf Deutsch erschienen. Werner Grünzweig, Leiter des Archivs, meint: „Wäre Borneman, anstatt in Paris und London sein ‚Exil’ zu verlängern, bald nach Kriegsende nach Deutschland zurückgekehrt, hätte er die Jazzpublizistik nach Belieben beherrscht und in der Neuordnung des Musiklebens eine gewichtige Rolle spielen können.“

Berlin 1930 bis 1933: Das Phonogramm-Archiv

Die Musik war von klein auf Teil seines Lebens, die Hauptsache sogar. Borneman attestierte sich selbst eine „manische, schon ans Zwangsneurotische angrenzende Abhängigkeit von der Musik“. Schon als Junge sammelte er in Berlin Konzerterlebnisse. In seinen ersten langen Hosen hörte er Marlene Dietrich, später auch die Weintraub Syncopators auf dem Dach bei Karstadt. Als Chorsänger wirkte der 15-Jährige damals in Brechts Schuloper „Der Jasager“ mit und freundete sich mit dem Autor an. Aufgrund der Reaktionen der beteiligten Schüler verfasste Brecht anschließend den „Neinsager“: „Brecht hat alles, was wir sagten, gedruckt.“ Auch an Proben zu „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ war der Teenager noch beteiligt, bevor er 1933 Deutschland verließ.

Mit Louis Armstrong, Paris 1948. Foto: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin

Hatte Borneman Talent zur musikalischen Karriere? Das fragten sich auch seine Eltern und stellten ihn einem weitläufigen Verwandten vor: dem österreichischen, in Berlin lebenden Musikwissenschaftler Erich von Hornbostel (1877-1935). Hornbostel war Mitbegründer des Berliner Phonogramm-Archivs, das er von 1906 bis 1933 leitete und für das er Tausende von Tondokumenten exotischer Musik aus der ganzen Welt zusammentrug. Er begründete die Musikethnologie, benutzte wohl als Erster den Begriff „Weltmusik“ und gilt bis heute als der „Guru“ der Vergleichenden Musikwissenschaft. Sein Spezialgebiet war die altchinesische Musik, deren Einfluss er sogar in Europa, Afrika und Amerika nachwies. Dabei stieß er auch immer wieder auf andere kulturanthropologische Phänomene und befasste sich unter anderem mit den Längenmaßen der Antike, der Entstehung des Alphabets, Tierkreisvorstellungen oder volkstümlichen Fadenspielen.

Diesem Wissenschaftler also musste der junge Borneman vorspielen. In seiner Autobiografie „Die Urszene“ (1977) erinnert er sich: „(...) Als er seinen Kopf schüttelte, war ich froh, von ihm bestätigt zu finden, was ich sowieso vermutet hatte: dass ich kein Talent für klassische oder moderne europäische Kunstmusik habe. ‚Aber’, sagte Hornbostel, ‚der Junge hat einen guten Sinn für Tempi, glaube ich. Spiel mal das!’ Und dann klopfte er einen Rhythmus mit der linken Hand und setzte ein paar Sekunden später mit der rechten ein. Das schien mir kinderleicht, und nachdem wir eine Viertelstunde mit solchen Klopfspielen verbracht hatten, sagte er zu meinen Eltern: ‚Der Bub sollte bei mir Vergleichende Musikwissenschaft hören, denn er kann da was, was die meisten meiner Studenten nicht können. Er kann drei gegen vier, fünf gegen sechs oder additive Rhythmen spielen. Das ist angeboren und kommt bei Europäern nicht oft vor.“ Also saß der Berliner Schüler Ernst Bornemann nachmittags in Hornbostels Vorlesungen und half ihm an Wochenenden im Archiv. Vor allem indische und afrikanische Musik tat es ihm an. Übrigens hatte der Junge schon mit zehn Jahren auf der Pariser Weltausstellung Trommler aus dem Kongo gehört und schwärmte später noch oft von ihren zwölfstimmigen Rhythmus-Fugen. Von Hornbostel lernte er auch, wie man Tonaufnahmen macht, was ihm bei seiner Tätigkeit in einem kommunistischen Filmclub zugute kam.

„Als ich bei Hornbostel zum ersten Mal afroamerikanische Musik hörte – Spirituals, Arbeitslieder, Straßenrufe von Kohlen-, Holz- und Eisverkäufern, vor allem aber Blues –, da war mir sofort klar, dass das meine Musik war.“ 1930 spielte ihm Hornbostel erstmals auch Jazz vor: „Ory’s Creole Trombone“, aufgenommen 1921 in Los Angeles. Es war eine 25-cm-Schellackscheibe, abgespielt auf einem handbedienten Grammofon mit großem Metalltrichter. Der Junge hielt sich entsetzt die Ohren zu, aber der Wissenschaftler lobte die Aufnahme als ein großartiges Quodlibet, als kollektive Extempore-Kunst: „Es ist das wirkliche Glied zwischen Improvisation und Komposition, zwischen Volksmusik und Kunstmusik“. Der Professor nannte dies „Jatzmusik“. Drei Tage später nahm er sechs Studenten (darunter Borneman) mit ins Haus Vaterland, den sechsstöckigen Nachtklub in Berlin, wo damals Sidney Bechet gastierte. Hornbostel verriet bei dieser Gelegenheit, welche Jazzmusiker er schon im Konzert gehört hatte, darunter Eddie South, James P. Johnson, Buster Bailey, Wellman Braud, Toby Hardwick... Dafür war er nach London, Paris, Holland und Ungarn gereist. „Dies, glaube ich“, schrieb Borneman 1956, „war meine Einführung in den geheimen Kult der Gläubigen...“

London 1933 bis 1940: Ethnologie der Nachtklubs

Borneman, der „lebenslange Sozialist“, war in seiner Jugend Mitglied der Kommunistischen Partei. Als nach Hitlers Machtergreifung KP-Mitgliederlisten in die Hände der Nazis gerieten, wurden viele Kommunisten direkt in die Konzentrationslager deportiert. Ein schnell entschlossener SPD-Mann rettete Borneman womöglich das Leben: Er schleuste den 18-Jährigen unter falschem Namen in eine Elitegruppe der Hitler-Jugend ein, die zum Schüleraustausch nach London fuhr. Dort beantragte Borneman politisches Asyl und erhielt eine Aufenthalts-, aber keine Arbeitserlaubnis. Um dennoch sein Studium zu finanzieren, schlug er sich mit illegalen Jobs durch (vom Tellerwäscher bis zum Rallyefahrer) und schrieb drei Jahre lang in der fremden Sprache an einem Kriminalroman, der sogar erfolgreich war und in zwölf Sprachen übersetzt wurde.

Ein Kind der Traurigkeit war der spätere Sexualforscher Borneman nie. In London gab sich der junge Mann als Musikkorrespondent des Berliner Tageblatts aus, stürzte sich sofort in die Nachtklubs und privaten Partys und war dabei keineswegs nur an musikalischen Erfahrungen interessiert. Im „Nest“ und später im „Shimsham“, dem wichtigsten Londoner Jazzclub, trafen sich die einheimischen Musiker zum Jammen mit den schwarzen Stars, die in der Stadt gastierten. Schon fünf Tage nach seiner Ankunft in London hörte Borneman im „Nest“ Duke Ellington und seine ganze Band, später auch Louis Armstrong, Cab Calloway und 1937 das Teddy Hill Orchestra mit Dizzy Gillespie, Roy Eldridge und Chu Berry. Da hatte Borneman längst angefangen, auch selbst zu jammen, erst am Klavier, dann auch an Kontrabass und Schlagzeug, und wurde sogar auf Atlantikdampfern engagiert. „Als die Jazzmusiker noch zum Tanzen spielten, das waren die goldenen Jahre“, erinnerte er sich 60 Jahre später. „Jeder spielte für eine bestimmte Frau, die da tanzte. Wir imitierten jede Tanzbewegung mit dem Instrument oder forderten sie heraus. Die Analogien zwischen Jazz und Sex sind ja nun wirklich offensichtlich. Jazz bedeutet ja Fuck.“ Privat spielte Borneman damals gern mit einem Freund vierhändig Klavier, wobei sie versuchten, aktuelle Boogie-Themen von Meade Lux Lewis, Albert Ammons oder Pete Johnson in Bach’sche Grundbass-Formen zu verwandeln – und umgekehrt Barockmusik in Boogies und Blues.

Wie im Jazz so hatte Borneman auch im Studium bald Kontakt zu Schwarzen, die sein Weltbild, vor allem auch sein Jazzbild veränderten. Durch seinen Mitbewohner C.L.R. James wurde Bornemans Apartment zum heimlichen Zentrum der Londoner Schwarzen-Bewegung. Hier trafen sich angehende Wissenschaftler aus Afrika, Amerika und der Karibik zu nächtelangen Diskussionen. Tagsüber studierte Borneman Musikethnologie (zunächst in Cambridge beim ebenfalls emigrierten Hornbostel), dann Sozialanthropologie und Sexualwissenschaft in London, dann Kulturanthropologie und Psychoanalyse in Edinburgh. Er forschte an der London School of Oriental Studies und saß unzählige Stunden in der Bibliothek des British Museum. Unermüdlich im Materialsammeln, wuchsen auch seine Notizen über Jazz ins Uferlose an, unterfüttert mit sozioethnologischen und musiktheoretischen Erkenntnissen. Borneman erstellte für sich Musikerregister, Wörterbücher, Diskografien.

Die erste abgeschlossene Version seiner Jazzdarstellung, „Swing Music. An Encyclopaedia of Jazz“, sandte er 1940 an Melville J. Herskovits, den damals führenden Afro-Amerikanisten Amerikas, und verband damit die Hoffnung auf ein Forschungsstipendium in den USA. Das maschinengeschriebene Werk hatte einen Umfang von 580 Seiten, angehängt waren eine 200 Seiten starke Bibliografie und auch ein kleines Glossar des Jazz-Slangs der 30er-Jahre. Darin findet man so hübsche Ausdrücke wie „after dark spot“ (Nachtklub), „88“ (Klavier), „gas pipe“ (Posaune), „Miss Annie“ (weißes Mädchen), „strictly Union“ (uninspiriert) und ein halbes Dutzend Namen für Marihuana. Die Schrift selbst ist eine sozialistisch getönte Darstellung der Grundlagen und der Geschichte des Jazz. Borneman beschäftigt sich mit den Ursprüngen dieser Musik in New Orleans, dem Einfluss der Straßenparaden und der Coon Songs, der westafrikanischen Herkunft des Wortes „Jazz“ und den französischen Wurzeln mancher Jazz-Standards wie „Tiger Rag“ und „Solitude“. Detailliert werden die Aufnahmen des New-Orleans- und Chicago-Jazz auf über 200 Seiten beschrieben, auf 30 weiteren geht es um den Jazz in Europa.

Im zweiten Teil der Schrift beschäftigt sich Borneman mit den Grundelementen dieser Musik wie Improvisation, Instrumentierung, Harmonik und Rhythmus. Er betont, dass Jazz auf der Weitergabe durch Praxis beruhe, vergleichbar den Malerwerkstätten der Renaissance, und die Improvisation ein Ausdruck eines Freiheitsbedürfnisses sei, einer gefühlten Notwendigkeit, die Welt zu verändern, ähnlich wie in der Commedia dell’Arte. Nach Borneman ist der Jazz im Ursprung kontrapunktisch, nicht harmonisch: Jahrzehntelang sollte er sich gegen den Einfluss der Tin Pan Alley auf den Jazz aussprechen. Bornemans Jazz-Ideal war die kollektive New-Orleans-Improvisation, die Spannung der Interaktion, die der Barock-Improvisation fremd sei. Weiter betont er die historische Bedingtheit dessen, was man als Dissonanz empfinde, und freut sich an der harmonischen Unentschiedenheit vieler Jazz-Passagen. Er betont, dass Jazz auch das Spiel der Instrumente revolutioniert habe, und diskutiert den Begriff „Synkopierung“: Im Jazz betreffe sie alle Instrumente, habe also mit dem europäischen Synkopenbegriff nichts zu tun, sondern sei Ausdruck von Expressivität. Weil das Englische die am stärksten synkopierte europäische Sprache sei, eigne sie sich ganz besonders für den Jazzgesang.

Kanada 1940 bis 1947: Das afrikanische Erbe

Durch seine spätere Frau fand Borneman ab 1936 in die britische Filmindustrie – zunächst als Dramaturg, dann als Kameramann und Regie-Assistent bei der BBC. 1940 hatte er gerade auch seine erste Musiksendung im Radio gemacht, als ihn Großbritannien zum feindlichen Ausländer erklärte und festnehmen ließ. Er wurde per Schiff in ein kanadisches Internierungslager deportiert. Dort entdeckte ihn der Pionier des Dokumentarfilms, John Grierson, und bewirkte seine Freilassung. „Ich durfte dennoch nach 18 Uhr nicht auf die Straße, und er schickte mich deshalb dorthin, wo es keine Straßen gibt: zum Filmen bei Eskimos und Indianern an der Hudson Bay.“ 1943 lernte Borneman den amerikanischen Jazzsammler Gordon Gullickson kennen, mit dem zusammen er dann eines der ersten Jazzmagazine überhaupt herausgab: „The Record Changer“. Dort erschien in Fortsetzungen (von Mai 1944 bis August 1947) die Neufassung von Bornemans Jazz-Enzyklopädie, die er zu dieser Zeit auch beim Afro-Amerikanisten Herskovits als Doktorarbeit einreichte (unter dem Titel „American Negro Music“). Die regelmäßige Kolumne hieß „An Anthropologist Looks at Jazz“ und erschien gekürzt in Buchform 1946 als „A Critic Looks at Jazz“.

Dieser schmale, 54-seitige Band ist das einzige von Borneman veröffentlichte Jazzbuch. Es verblüfft vor allem durch die musikethnologischen Ausführungen über die afrikanischen Wurzeln des Jazz – offenbar der Einfluss des (angestrebten) „Doktorvaters“ Herskovits. Dass in westafrikanischen Sprachen neben Vokalen und Konsonanten auch die Intonation Bedeutungen trägt und sich dies in der Tonsprache des Jazz niedergeschlagen haben könnte, war 1946 ein durchaus neuer Gedanke. Borneman versucht außerdem, die Blues-Technik aus der Begegnung von Pentatonik und Diatonik zu erklären; die Instrumentierung früher Jazzbands aus der Umsetzung afrikanischen Singens, Klatschens und Stampfens; die afro-amerikanischen Rhythmen aus der Anpassung von Arbeitsliedern an neue Arbeitsvorgänge; die Macht des schwarzen Baptismus aus dem Erbe der Dahomey-Flusszeremonie; den Erfolg der afro-amerikanischen Musik aus dem Zwang, sich in der Sklaverei non-verbal mitzuteilen. Bornemans Thesen sorgten schon bei den Lesern der Kolumne für einiges Aufsehen, so dass er in einer zweiten Kolumne im „Record Changer“ („Questions and Answers“) parallel dazu Leserfragen beantworten musste.

Daneben veranstaltete und spielte er in Kanada selbst Jazzkonzerte, an denen unter anderen Oscar Peterson und Mezz Mezzrow teilnahmen, und machte für seinen „Retter“ John Grierson eine Anzahl von Jazzfilmen. 1945, mit 30 Jahren, wurde er kanadischer Staatsbürger: Aus Ernst Bornemann wurde endgültig Ernest Borneman.

Paris 1947 bis 1949: Ablehnung des Bebop

Nach seiner Karriere als Dokumentarfilmer in Kanada folgte Borneman John Grierson nach Paris und übernahm dort die Leitung der UNESCO-Filmabteilung. Da er sich auf diesem Posten langweilte, widmete er sich bald wieder in der Hauptsache dem Jazz, klapperte die Pariser Nachtklubs ab, interviewte Musiker, zog mit Duke Ellington oder Louis Armstrong nächtelang umher, schrieb für das Magazin „Présence Africaine“ (Michelle Vian übersetzte ihn ins Französische) und wurde der Paris-Korrespondent für die US-Magazine „Down Beat“ und „Variety“. Er war mit Maxim Saury und Claude Bolling befreundet und vermittelte zwischen den verfeindeten Jazz-Päpsten Panassié und Delaunay: „Ich trug dauernd Geheimbriefe von Paris nach Montaubon, wo Panassié damals in einer Burg lebte, und von dort nach Paris zurück.“ Der Spötter Boris Vian hat sich in seinen Schriften gelegentlich über den befreundeten Borneman lustig gemacht, vor allem natürlich über seine anthropologischen Ambitionen und seine strikte Ablehnung des Bebop. Tatsächlich hielt Borneman die moderne Harmonik des Bop für bemüht und misslungen und seine Virtuosität für technisch fixiert und barock verschnörkelt. Ohnehin wollte er von einer Bindung des Jazz an Chord Changes nichts wissen. In der Zitierlust des Bebop sah er einen weiteren Beweis für mangelnde Originalität.

London 1949 bis 1960: Die kreolische Tradition

Nach einem unglücklichen Zwischenspiel als Szenarist von Orson Welles kehrte Borneman 1949 mit seiner Frau mittellos nach London zurück und begann – „aus ökonomischer Notwendigkeit“ – die intensivste Phase seiner Tätigkeit als Jazzkritiker. In der späteren Pop-Bibel „Melody Maker“ hatte er drei Jahre lang eine wöchentliche Kolumne namens „One Night Stand“, die als Signum sein gezeichnetes Porträt trug. Dort berichtete er zum Beispiel am 12. Mai 1951 vom deutschen „Doktor Jazz“, Dietrich Schulz-Köhn, am 1. September verdammte er den Formalismus von Lennie Tristano, am 3. November schrieb er mutig gegen die Diskriminierung von Kommunisten und Schwarzen in den USA. Auf einem in der Jazz-Publizistik seltenen Niveau verband Borneman hier britischen Humor und gedankliche Präzision. Er horchte sogar nach Deutschland hinein und stellte den „Jazz in Germany“ vor: Seine Porträts von Hans Koller, Jutta Hipp, Max Greger oder Carlo Bohländer erschienen im „Melody Maker“, einige aber auch in „Down Beat“, „Jazz“, „Jazz-Echo“ oder „Music Mirror“. Mehr als ein Dutzend Magazine versorgte er damals mit Jazz-Artikeln. Sogar für „Harper’s Magazine“ schrieb er (schon 1947) zwei längere, höchst amüsante Satiren über die Verrücktheit von Jazzsammlern und -kritikern („The Jazz Cult“).

Fast am Ende seines aufregenden Lebens angekommen: Ernest Bornemann 1991 in Scharten. Foto: Christa Dederich

Angeregt von der Mambo- und Cha-Cha-Mode der frühen 50er-Jahre, entdeckte Borneman damals den „kreolischen“ Zusammenhang zwischen Karibik und New Orleans. Er verwies auf die Nähe des frühen Jazz zu den Volkskapellen der romanischen Länder, jenen „Spanish tinge“, von dem schon Jelly Roll Morton sprach, die kreolischen Elemente im „Muskrat Ramble“ oder „King Porter Stomp“ und die jazzähnlichen Melodien auf Martinique, Guadaloupe oder Trinidad. Aus seiner Begeisterung für den „Creole Jazz“ entstanden gleich mehrere regelmäßige Kolumnen in „Melody Maker“ und „Gramophone Record Review“, die „Tropicana“, „The Latin Touch“, „Spanish Tinge“ oder „Exotica“ hießen. 1955 gründete Borneman sogar eine „Latin American Music Society“. Seine Thesen zum kreolischen Raum verbreitete er in zahlreichen Aufsätzen, Vorträgen, Radiosendungen, Rezensionen und Liner Notes. Radio Bremen sendete seine fünfstündige „Geschichte des kreolischen Jazz“ und noch 1969 sprach Borneman in Graz über „Die kreolische Tradition“.

Bornemans Einfluss auf die internationale Jazz-Publizistik der 50er-Jahre war so enorm wie seine Tätigkeit vielfältig. Er machte in jener Zeit mindestens 300 Funk- und Fernsehsendungen, etwa ein Drittel davon über Jazz, war Chefdramaturg, Produzent, Drehbuchautor, Spielfilm-Regisseur und Programmchef eines Filmfestivals. Seinen dritten, sogar ein wenig jazzgefärbten Roman „Tremolo“ (1948, deutsch: „Am Apparat das Jenseits“) verfilmte Yul Brynner 1950 für die CBS. Vier Jahre später produzierte Borneman für die BBC seine Jazz-Oper „Four O’clock in the Morning Blues“ mit Cleo Laine und dem Johnny Dankworth Orchestra. „Von allen Filmen, Fernsehspielen und Musicals, an denen ich mitgewirkt habe, hat mir diese Arbeit am besten gefallen.“ Der Komponist der Musik hieß Malcolm Rayment.

Deutschland/Österreich um 1970: Schwarzes Licht

Als Borneman in den deutschen Sprachraum zurückgekehrt war, erschienen immerhin ein paar Kostproben aus seinen Schriften übersetzt in Anthologien und Zeitschriften. Er selbst hatte inzwischen seinen Platz im akademischen Leben gefunden und forschte über Kindersexualität. Doch Ende der 60er-Jahre kam überraschend eine Jazz-Professur in Graz ins Gespräch, und so begann sich Borneman noch einmal tief in den Jazz einzuarbeiten. Er hielt Vorträge, publizierte in der Grazer „Zeitschrift für Jazzforschung“ und plante eine rundum erneuerte Fassung seiner Jazz-Enzyklopädie. Für dieses Projekt unter dem Titel „Black Light and White Shadow“ trug er Unmengen an Material zusammen, das er akribisch in Themenmappen ordenete: Es waren Ausschnitte aus eigenen Schriften, längere und kürzere Notate (vor allem aus der Zeit um 1965) und gesammelte Materialien aus Zeitungen. Da gibt es nicht nur Mappen zu Afrika, Ragtime, Minstrels, Gospel oder Swing, sondern auch zu Bop, Cool, Modern Jazz, Creole Jazz und sogar Free Jazz. Dazu kommt haufenweise Material zur Geschichte der Afroamerikaner, zu politischen und religiösen Fragen und psychologischen Kategorien.

Aus diesen Vorarbeiten wird deutlich, dass sich Borneman eingehend auch mit dem Avantgarde-Jazz der 60er-Jahre und der gesellschaftlichen Rebellion der schwarzen Amerikaner dieser Zeit befasst hat. Obwohl er politisch mit dem Free Jazz sympathisiert, erkennt er in ihm eine defätistische, frustrierte, rein negative Grundhaltung, die nach seiner Meinung keine gesellschaftliche und musikalische Perspektive besaß. Seine Ausführungen über Leroi Jones (Amiri Baraka), einen der Wortführer der politischen Jazz-Publizistik jener Jahre, mit dem er 1965 auch eine Podiumsdiskussion bestritt, würde allein ein kleines Buch füllen. Statt einer Jazz-Professur akzeptierte Borneman dann aber eine Berufung ans Psychologische Institut Salzburg und legte seine Jazzpläne endgültig beiseite. „Man kann nicht gleichzeitig Psychoanalyse und Musik betreiben. Ich jedenfalls kann’s nicht. Das eine geht von außen nach innen, das andere von innen nach außen.“ Kurz vor seinem Freitod 1995 vermachte Borneman sein gesamtes Jazz-Material an die Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin.

Hans-Jürgen Schaal

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