Ausgabe Oktober 1998POTRAITLiquid Soul Die seltsame Odyssee des Mars Williams Autor: Foto: |
![]() Den Jazzkritikern, einem bisweilen eher begriffsstutzigen Menschenschlag, ist Mars Williams noch immer ein Rätsel es will ihnen einfach nicht gelingen, den kleinen Mann aus Chicago, der so behende von ei-nem musikalischen Kontext zum nächsten springt, im Sucher zu behalten. Eben noch war er als spiritueller Regisseur von Witches & Devils zu sehen, einer Band, die nur Stücke von Albert Ayler zu Gehör bringt (und das mit einer Wucht, die selbst Albert umgehauen hätte), da hüpft er schon in die Acid-Jazz-Charts, spielt auf der Geburtstagsfeier von Chicago-Bulls-Star Dennis Rodman oder bei Bill Clintons Wahlparty (wo Vizepräsident Al Gore die Band mit einem lautstarken "Liquid Soul rules!" ankündigte). Wenn man außerdem bedenkt, daß Williams einst Schüler von Roscoe Mitchell und Anthony Braxton war, als Mitglied der Psychedelic Furs um die Welt reiste und genauso gern im Vorprogramm von Sting im Madison Square spielt wie auf einem verwanzten Dachboden mit Ken Vandermark als Duo Cinghiale, dann beginnt man zu verstehen, was John Zorn, ein Fan der ersten Stunde, meinte, als er einmal sagte, "Was spielerische Vielseitigkeit betrifft, hat Mars neue Maßstäbe gesetzt". Und: "Seine Musik ist immer aufregend, egal in welchem Kontext." Der plötzliche Erfolg von Liquid Soul überraschte selbst Mars. Wer in der Chicagoer Szene überleben will, muß immer mehrere Eisen im Feuer haben, aber während andere Free-Jazzer in der Windy City ihre Experimente vorzugsweise mit Bebop-Gigs subventionieren, leitete Williams jahrelang kleine Rockbands mit Namen wie Action Figures, Act of God oder Sundrummers. Auch Liquid Soul, Anfang 1994 gegründet, war für Mars zunächst nur eine weitere Möglichkeit, ein paar Dollar für die Miete reinzuholen, doch von der lokalen Acid-Jazz-Gemeinde wurde ihre Melange aus Hip-Hop, Pop, Jazz und Funk mit großer Begeisterung aufgenommen. Eine Band von solcher improvisatorischer Bandbreite hatte man in diesem Genre noch nicht gehört, und Chicagos Freestyle-Rapper, Impromptu-Verseschmiede der obersten Gewichtsklasse, standen in vollgestopften, dampfenden Clubs wie dem Elbo Room und dem Double Door vor der Bühne Schlange, um ein paar Minuten mit Mars Männern zu jammen. Der einfallsreichste dieser Rapper, ein gefährlich aussehender Typ namens MC The Dirty MF, wurde bald zum festen Bandmitglied. Von einer privat produzierten CD mit dem einfachen Titel "Liquid Soul", die es anfangs nur bei Live-Gigs zu kaufen gab, wurden bis heute allein in den USA 30.000 Stück abgesetzt für eine Independent-Produktion eine beeindruckende Zahl. Mars Williams Hartnäckigkeit und Enthusiasmus erregten die Aufmerksamkeit des früheren Police-Managers Miles Copeland, der Liquid Soul für sein neues Label Ark 21 (EMI) unter Vertrag nahm und ihre neue CD finanzierte. "Make Some Noise" ist ein rasantes, witziges Opus, auf dem Williams Saxophon-künste besser zur Geltung kommen als auf dem Erstling zum Beispiel in dem Modal-Delirium "Opium Jacuzzi" und einer Coverversion von Ornette Colemans "Rambling", das mit straffem Funk-Arrangement inklusive Turntables und Scratching erstaunlich gut funktioniert. Außerdem gibt es einen wilden Galopp durch Dizzy Gillespies "Salt Peanuts", bei dem Gastsänger Kurt Elling neue Geschwindigkeitsrekorde im Scatten aufstellt. Und immer wieder hört man die Stimmen (herausgefiltert aus alten Radiointerviews und Live-Aufnahmen) von Jazzgrößen wie Bird, Dizzy, Miles, Coltrane, Ornette oder Blakey so, als wollte Williams uns mittels dieser ausgeborgten Vokaleinlagen klarmachen, daß Liquid Soul zwar eine ziemlich abgefahrene Art von Jazz spielen mögen, ihre Musik aber trotzdem in der Tradition verwurzelt ist. Die Besetzung der Band hat sich in den letzten fünf Jahren des öfteren geändert, ist aber derzeit stabil: Williams, der zuvor erwähnte Rapper Dirty MF, Sängerin Simone (Tochter von Nina Simone, immerhin), Trompeter Ron Haynes (früher bei den Ohio Players), DJ Ajax (von Mars als "Hendrix der Turntables" beschrieben), der afrokubanische Perkussionist Newt Cole III, Posaunist und zeitweiliger Tänzer John Janowiak, Bluesgitarrist Tom Sanchez, Bassist Rockie Showalter und Drummer Dan Leali. Dieser Zehnerpack spielt seit zwei Jahren durchschnittlich fünf Konzerte pro Woche, also praktisch nonstop, und obwohl Illinois immer noch ihr Hauptbetätigungsfeld ist, gab es auch schon Nordamerika-Touren mit Festivalauftritten in Newport, Toronto und Montreal. 1997 bliesen Liquid Soul das Moerser Zeltdach weg, doch eine richtige Europatournee läßt noch auf sich warten. Hat dieser Wirbel an Aktivität auch Schattenseiten? Vielleicht. Einige improvisatorische Projekte mußten hintangestellt werden. Vor kurzem verließ Williams, wenn auch mit blutendem Herzen, die Vandermark Five, weil deren Auftritte in seinem Terminkalender keinen Platz mehr hatten, aber hin und wieder spielt er immer noch mit eigenen, freieren Ensembles und versucht, ein bißchen Kapazität freizuhalten für spezielle Unternehmen wie das Peter Brötzmann Chicago Octet, auf dessen Triple-Album (Okka) er zu hören ist. "Ich hoffe, daß ein bißchen was von dem Scheinwerferlicht, das auf Liquid Soul fällt, die anderen Sachen erreicht, die ich mache", meint Mars. "Zum Beispiel hatten wir eine Titelstory in Billboard, in der ich auch über das NRG Ensemble Witches & Devils und andere Improv-Projekte sprechen konnte. Letztes Jahr wäre so etwas noch unmöglich gewesen. Eigentlich komisch. Liquid Soul ging ab wie eine Rakete, und das zu einer Zeit, als ich zusammen mit der Chicago Improvisors Coalition gerade versuchte, mehr Auftrittsmöglichkeiten für die freieren Bands zu schaffen. Aber es macht Spaß, ich bin stolz, daß ich ohne Sponsor mit einer zehnköpfigen Band auf Tour gehen kann logistisch und finanziell ist das ein irrer Aufwand und ich möchte beweisen, daß es möglich ist, Ele-mente aus allen möglichen Genres kreativ zu mischen und das Spektrum dessen, was so unter "Acid Jazz" firmiert, noch mehr zu erweitern." |
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