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Ausgabe Juli/August 1998

STORY

Der entschärfte Bürgerschreck

Jacques Loussier und Teodoro Anzellotti spielen Erik Satie

Jacques Loussier spielt mit seinem Trio am 25.Juli im Brunnenhof der Münchner Residenz.

Literatur:

Heinz-Klaus Metzger / Rainer Riehn: Musikkonzepte 11, Erik Satie (Edition Text & Kritik, 21988).

Grete Wehmeyer: Erik Satie (rororo Monographien, erscheint voraussichtlich im August 1998).

Anspieltips:

Jacques Loussier Trio: Satie Gymnopédies / Gnossiennes (Telarc Jazz / Inakustik CD-83431)

Teodoro Anzellotti: Erik Satie (Winter & Winter / Edel Contraire 910 031-2).

Vienna Art Orchestra: The Minimalism Of Erik Satie (Hat Art / Helikon CD 6024)

Historische Aufnahmen siehe Metzger / Riehn, S.114-

Autor: Ralf Dombrowski

Fotos: UK Promotion

Jazzmusiker haben Erik Satie seit den Innerlichkeitsbestrebungen des Kammerjazz entdeckt. Das Spektrum reicht von sanft schmelzenden Klavierpassagen etwa einer Annette Peacock bis hin zu extravaganten Bearbeitungen wie durch das Vienna Art Orchestra ("The Minimalism Of Erik Satie"). Und oft enden seine Kompositionen gar in Kaufhaus-Regalen der Esoterikabteilungen, instrumentalisiert als Soundtrack für Meditation und Seelenheil.

So passiert etwas Eigenartiges. Was einst provozierte, beruhigt im neuen Kontext. Saties tiefe Skepsis gegenüber der Virtuosität als Selbstzweck wird im Zeitalter postmoderner Wertungen in Introspektion, zuweilen in Sentimentalität umgedeutet. Pedalverhangen spielen klassische Pianisten Gymnopédien und Gnossiennes, als seien sie späte Nocturnes von Chopin. Sie kanonisieren Satie durch ihre Interpretation posthum als Bindeglied zwischen Romantik, Impressionismus und verhaltener Abstraktion. Die mehrdeutigen Regieanweisungen werden in der Regel als humoristischer Firlefanz beiseite geschoben. Manche seiner Klavierwerke können auf diese Weise tatsächlich so klingen, als seien sie verlorengegangene Albumblättchen Debussys, konzertsaaltauglich, abonnementkompatibel.

Den aktuellen Höhepunkt ästhetisierender Umdeutungen liefert Jacques Loussier. Als Stilklitterer Mitte der Sechziger Jahre selbst einmal ein böser Bube des Business, hat sich der einstige Bilderstürmer zum Konservator gewandelt. Denn der 64jährige Pianist und Komponist aus dem französischen Städtchen Angers hat die Idee, aus den fugalen, kontrapunktischen Gestaltungsweisen Bachs ein improvisatorisches Element zu destillieren, nicht mehr nur auf dessen Barock-Kollegen Vivaldi ausgedehnt. Sein aktuelles OEuvre heißt — "Satie" und steht ganz im Zeichen der gängigen neobürgerlich interpretatorischen Vereinnahmung. "Ich fühlte mich einerseits durch die surrealistische Qualität der Musik Saties angezogen", kommentiert Loussier seine Motivation der Bearbeitung, "andererseits durch die großartige Klangreinheit dieser Klavierstücke. In ihrer Originalfassung schaffen sie eine esoterische Atmosphäre, die ich ausbauen wollte, indem ich ihre meditativen Aspekte erforschte und ausfindig machte, was sie über unser Inneres auszusagen haben". Loussier als Vollender Saties, Ikarus-Träume eines selbstüberzeugten Originalgenies. Im Trio mit dem Kontrabassisten Benoit Dunoyer De Segonzac und André Arpino am Schlagzeug ergänzt er die Gymnopédien und Gnossiennes, indem er Motive variiert, verlängert, überspitzt, und durch Wiederholung banalisiert, bagatellisiert. Das Paradox der Einengung durch Improvisation zieht sich durch die gesamte Aufnahme und macht in diesem Fall Musik durch schwadronierende Interpretation ärmer. "Der Jazz schreit uns seinen Kummer ins Gesicht, und wir scheren uns einen Teufel darum. Deshalb ist er so schön, so wirklich", schrieb Erik Satie in sein Notizbuch und komponierte voller Hochachtung 1917 seine Ragtime Parade als traurige Hymne auf die Authentizität. Er konnte nicht ahnen, was im Gegenzug ein Jazzmusiker mal aus seinen Liedern machen sollte ...

Noch ein aktuelles Beispiel zur Beruhigung. Teodoro Anzellotti nimmt Satie ernst. Der 39jährige klassische Akkordeonist aus Apulien hat beim Ensemble InterContemporaine Paris, beim Schönberg Ensemble Amsterdam oder auch beim Ensemble Modern Frankfurt genügend Erfahrungen mit zeitgenössischen Komponisten sammeln könne, um der Oberfläche zu mißtrauen. Sorgfältig arbeitet er Beziehungsgefüge und Kommunikationssituationen beispielsweise innerhalb von Sports Et Divertissements heraus, einer Sammlung mit 21 kurzen Kompositionen von 1914 zu Zeichnungen von Charles Martin. Behutsam folgt er den schrulligen Gestaltungshinweisen der Noten, darauf bedacht, den Liedern Charaktere zu verleihen. Der trokkene, im Vergleich zum gewohnten Klavierton spröde Klang des Akkordeons fügt den Kompositionen eine assoziativ reizvolle Ebene der Interpretation hinzu, die, im Unterschied zu Loussier, nicht im Dienste der darstellenden Person, sondern der Musik neue Atmosphären zu entwikkeln vermag. Anzellottis Satie taugt nicht für empfindsame Dämmerstündchen, dafür umso mehr zur Anregung der Diskussion, zum anspruchsvollen Quereinstieg in eine umnebelte Rezeptionsgeschichte.

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