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Ausgabe Juni 1998

STORY

Medeski Martin & Wood

Jazz gehört nicht länger bloß den Alten

Autor: Reinhard Köchl

Fotos: Motor Music

Stell dir vor, es ist Jazz, und keiner geht hin. Gruselige Vorstellung, nicht wahr? Könnte aber durchaus mal passieren. Nämlich den Musikern, Veranstaltern und Produzenten, die weiter zielstrebig an den Bedürfnissen der Zeit vorbeiplanen, die Fahne einer verblichenen Epoche hochhalten und mit bemerkenswerter Sturheit eine überkommene Form von 50er Jahre-Ästhetik konservieren. Ihre potentielle Klientel: jenes Publikum, das standhaft die Ansicht vertritt, daß mit Charlie Parker auch der wahre Jazz gestorben sei. Altvordere, für die Free, Avantgarde, Fusion, Funk, Rap und World tumbe Modegimmicks darstellen und die stattdessen viel lieber vom guten alten Swing schwärmen. Einmal Mainstream, immer Mainstream. Doch die biologische Uhr tickt unaufhörlich, und irgendwann kommt tatsächlich niemand mehr zum Jazz, weil die Fans einfach ausgestorben sind. Die Jungen haben derweil längst ihre eigene Musik gefunden; tanzbare, aktuelle Musik, mit der sie sich bewußt vom hausbackenen Geschmack der älteren Generation abzusetzen versuchen. Und im Prinzip machen sie dabei sogar dasselbe, wie ihre Väter oder Mütter vor Jahrzehnten mit ihrer gerade erflammten Liebe zum damals noch unangepassten, anarchistischen Jazz.

Natürlich gibt es durchaus einige, die eine derartige Horrorvision um jeden Preis zu vermeiden trachten. Durch das bewußte Öffnen ihrer Ohren, durch den Einsatz neuartiger Instrumente, durch die sorgfältig ausgeklügelte Verschmelzung gegensätzliche Stile oder einfach durch eine bestimmte Lebenseinstellung. "Es hängt damit zusammen, loszuziehen, dich selbst zu verleugnen und erstmal eine Weile für nichts zu spielen," meint beispielsweise John Medeski. "Du spielst, weil du die Musik liebst, nicht weil du in bequemen Hotels nächtigen und kostbaren Wein trinken willst. Deine Aufgabe besteht darin, die Musik aus dem Universum auf die Erde zu holen. Ohne Publikum ist die beste Musik wertlos. Und die Leute haben einfach keine Lust mehr, ins "Blue Note" zu gehen, um ein paar gelangweilte Musiker 50 Minuten spielen zu sehen und sich danach wieder rausschubsen zu lassen. Damit verbindet sich keine reale Erfahrung mehr!"

Der Mann klingt, als wüßte er tatsächlich, wo der Schlüssel zur Zukunft des Jazz vergraben liegt. Er und seine beiden Kumpane Billy Martin und Chris Wood zählen trotz ihres klaren Bekenntnisses zur improvisierten Musik augenblicklich in den USA zu den absoluten Megastars. Das Trio füllt mit seinem hippen Mix aus Sun Ra, Greatful Dead und den Lounge Lizards mühelos Hallen mit 3.000 und mehr Menschen und stahl sogar der Neo-Hippie-Band "Phish" bei einem gemeinsamen Gig mühelos die Schau. Wenn Medeski Martin & Wood irgendwo auf eine Bühne steigen, flippt die brave College-Jugend regelmäßig völlig aus; ein sozio-psychologisches Phänomen, das in Deutschland allenfalls bei Boygroups zu beobachten ist. Dabei gibt sich das muntere Dreigestirn jede nur erdenkliche Mühe, Auswüchse dieser Art bereits im Keim zu ersticken. Der Keyboarder, der Bassist und der Drummer beginnen ihre Konzerte häufig mit gut 30 Minuten langen Drones und freien Improvisationen. Doch stets ohne erkennbar abkühlende Wirkung. Die Kids kreischen, schreien, tanzen und stellen jede gültige Vermarktungsstrategie von Jazz als schwer verdaulicher und verkaufbarer Ware auf den Kopf. Amerikanische Realität anno 1998, von ihrer Entstehung bis zu den geradezu sensationellen Auswirkungen aus dem Stoff, aus dem moderne Märchen gestrickt sind.

Am Anfang stand ein Kleinbus, in dem drei unbekannte Freaks aus der New Yorker Downtown-Avantgarde eine Orgel, eine Baßgitarre und ein Schlagzeug quer durchs Land kutschierten. In jedem gottverlassenen Nest hielten sie an und spielten, mal in einer Bar, dann in einer Turnhalle, manchmal auf Parkplätzen oder in dunklen Kellern. Während ihre Kollegen aus dem "Big Apple" möglichst schnell nach Europa wollten, um dort dicke Kohle zu scheffeln, schaufelten sich MM&W sechs Jahre lang über die staubigen Landstraßen der USA, verkauften ihre Alben aus dem Bus heraus, bis schließlich immer mehr ihre Shows sehen wollten und sich daraus langsam, aber unaufhaltsam eine abenteuerhungrige Klientel herausschälte. Mit "Shack Man" (Gramavison/Efa-Medien), ihrem 1996 erschienenen, vierten Werk, schwappte die Kunde von der Groove-Trojka, die gerne und erfolgreich wider den Stachel löckt, gar über den großen Teich. Medeski Martin & Wood hatten es geschafft - von ganz unten nach ganz oben. Und inzwischen werden sie gar als Retter des Jazz gefeiert, ein Terminus, den John Medeski in dieser absoluten Tragweite jedoch ablehnt.

Zu retten gäbe es nichts. Nur sich an den wahren Bedürfnissen des Publikums zu orientieren. Medeski: "Keine Plattenfirma erreicht je das Publikum, um das es dir als Künstler geht, weil sie einfach Plattenfirmen sind. Das Publikum orientiert sich nämlich gar nicht an Platten. Da ist eine neue Generation von Hörern auf den Unis und den Colleges, die sich selbst auf die Socken machen, um Live-Musik auszuchecken. Die lassen sich nicht mehr von MTV und irgendwelchen Charts beeindrucken. Es gibt Bands die weder einen Vertrag, noch eine einzige Platte in der Hand haben, aber überall im Land vor zwei- bis dreitausend Leuten spielen können. Das Internet und der Tape-Handel sorgen dafür, daß sie im Gespräch bleiben. Die Plattenfirmen sind gerade erst dabei, aus diesem Phänomen zu lernen." Selbst etablierte Musiker, wie der über jeden Zweifel des Konservatismus erhabene Gitarren-Tüftler John Scofield, geraten unversehens in den Sog. Über seine Tochter (woher sonst?) wurde Sco auf MM&W aufmerksam, hörte "Shack Man", verbrachte vor Begeisterung einige schlaflose Nächte und beschloß, mit den Jungs eine Platte aufzunehmen. In Ermangelung der Telefonnummer benutzte der Übervater der funkigen Jazzgitarre sogar die offizielle Fan-Hotline und hinterließ darauf eine Nachricht. Auf Hawaii, wohin sich die Gruppe, die symbiotisch lebt, jeden Winter zurückzieht, kam schließlich ein Kontakt zustande.

"Wir haben dort kein Telefon und müssen immer in die Stadt, um unsere Messages durchzuchecken," erinnert sich John Medeski. "Wir kamen also aus dem Dschungel, deckten uns mit Essen ein und hörten den Anrufbeantworter ab. Da sagte einer: ‘Hi, this is John Scofield’. Wir lachten uns schlapp und hielten das fr einen Scherz unserer Freunde. Schließlich stand ich als Kind total auf Scofield und sein Trio mit Adam Nussbaum und Steve Swallow. Wir riefen zurück, und es war tatsächlich John Scofield!" Die schnell vereinbarte Kollaboration förderte "A Go Go" (Verve/Motor), eine der heißesten Groove-Scheiben der Jetztzeit zutage, in der sich Scofield Medeski Martin & Wood sogar völlig unverkrampf an den großen amerikanische Soul und den New Orleans-Sound der Vergangenheit heranwagen. "Ich glaube, wenn du die Leute mit dem Rhythmus kriegst, ist der Rest geschenkt. Und das ist hier einfach passiert", freut sich Medeski noch Monate später diebisch.

Vielleicht schafft John Scofield ja mit dem gemeinsamen Projekt endlich den Sprung aus der engen Jazzrock-Schublade, in die er irgendwann während der 80er Jahre gesteckt wurde. Immerhin kaufen ihn nun Leute, die seine Platten zuvor normalerweise nur mit spitzen Finger angefaßt hätten. Ein rundum jüngeres Publikum - darum geht es auch dem Gitarristen Oren Bloedow, der mit Medeski Martin&Wood "The Luckiest Boy In The World" (Knitting Factory/99 Records), eine wabberndes Grunge-Jazz-Album, einspielte, und mittlerweile sogar dem alterwürdigen Renommierlabel "Blue Note". Unter dessen Dach will das Trio mit den verrückten Ideen und der mutigen Phantasie ab sofort seine Mission fortsetzen. Die neue CD "Combustication" (Blue Note/EMI), von der Billy Martin verspricht, "daß sie genau die Dinge enthält, auf die unsere Fans auch bei ïShack Man` abfuhren, nur eben im optimalen Sound", geht in den Staaten schon über die Ladentische, wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. Und sie birgt - wieder mal - eine Geschichte der besonderen Art, diesmal erzählt von Chris Wood: "In der Gegend um dem ïMagic Shop` unser Aufnahmestudio, gibt es jede Menge erstklassiger Restaurants. Ich garantiere dir, daß ein Großteil der Musik auf ‘Combustication’ nach einem guten Essen mit Wein oder Sake entstand. Wir putzen uns den Mund ab, machten einen Take und - Bumm! Das war`s! Genau das gleiche passiert immer, wenn wir auf Tournee sind. Wer uns spitzenmäßig verköstigt, bekommt hinterher auch eine spitzenmäßige Show!" Jazz ist spätestens mit diesen drei Boys nicht länger Alleinbesitz der Alten. Medeski Martin & Wood tragen ihn endlich wieder zu den Kids zurück.

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