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Ausgabe Mai 1998

FESTIVAL

Trau keinem über dreißig?

Musikalische Höhenflüge
beim 30. Workshop Freie Musik

Autor: Martin Pfleiderer

 

Berlin. Die europäische Improvisationsmusik ist in die Jahre gekommen. Was vor drei Jahrzehnten als Befreiung von der Diktatur der Notenpulte und Spielkonventionen, von der Gängelung durch Dirigenten, Gruppenleiter und Konzertveranstalter seinen Anfang nahm, kann inzwischen auf eine reichhaltige Geschichte zurückblicken. Längst sind in der einstigen Terra incognita zwischen zeitgenössischer Komposition und Jazz eine ganze Reihe eigenständiger Spielhaltungen entstanden, und die "befreiten" Musikerinnen und Musiker pflegen heute ihre eigenen Spielregeln, Traditionslinien und Institutionen.

Die Berliner Free Music Production (FMP) hat die Geschichte der europäischen Improvisationsmusik von Kindesbeinen an mit Plattenveröffentlichungen und Festivals begleitet und dabei selbst den Wandel von einer Musiker-Selbstorganisation zum profesionellen Plattenlabel vollzogen. Nach dem überwältigenden Erfolg des Total Music Meetings im Herbst des vergangenen Jahres veranstaltete die FMP an Ostern in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste den 30. Workshop Freie Musik. An den fünf Konzertabenden standen dabei nur wenige unbekannte Namen auf dem Programm. Zur Konzeption der Festivalmacher gehört es vielmehr, durch die kontinuierliche Präsentation herausragender Improvisatoren über Jahre und Jahrzehnte hinweg, musikalische Entwicklungslinien nachvollziehbar werden zu lassen.

Die Stärke der improvisierten Musik liegt heute nicht mehr so sehr in der avantgardistischen Provokation, sondern in der immer neuen Ausgestaltung von persönlichen Spielansätzen, im selbstbewußten Umgang mit der erworbenen Freiheit. Dem Pianisten Fred van Hove, seit Ende der 60er Jahre auf der europäischen Impro-Szene aktiv, gelingt dies auf beeindruckende Weise. In seinem Berliner Soloauftritt befreite van Hove den Flügel zum Schlaginstrument: Mit atemberaubender Präzision und Ausdauer bearbeitete der belgische Pianist sein Instrument, hämmerte Tontrauben und Tremoli, klatschte ausufernde Glissandi über die Tastatur, tupfte einzelne Diskanttöne zwischen diese Soundorgien. Bei seinen kraftvollen Tonrepititionen versank van Hove mitunter in die Innenwelt des Pianoklangs, aus dem er durch einen differenzierten Anschlag bestimmte Frequenzbereiche hervortreten ließ. Mit dem Abtasten der Obertonreihe einer tiefen Klavierseite beendete er seinen pianistischen Höheflug – eine Sternstunde des diesjährigen Festivals.

Daß der Auftritt des Schlippenbach-Trios zu einem weiteren Highlight werden sollte, war nicht anders zu erwarten. Anfang der 70er Jahre gegründet, ist das Trio längst ein Klassiker der freien Musik. Parkers üppige Saxophonlinien, Lovens` feingliedrige Schlagzeugarbeit und Schlippenbachs ideenreiches Pianospiel waren auch in Berlin souverän aufeinander abgestimmt und eng ineinander verwoben. Im Zusammenspiel der drei Improvisations-Maestros offenbarte sich eine tiefes gegenseitiges Einverständnis, das auf eine langjährige gemeinsame Spielerfahrung aufbaut.

Strömen die Improvisationen des Schlippenbach-Trios wie ein klarer, strudelnder Gebirgsbach, so gleicht die Musik von Ulrich Gumpert, Dietmar Diesner und Tony Oxley einem harten, kantigen Gesteinsbrocken. Dabei ist der englische Schlagzeuger die treibende Kraft des Trios. Gezielt plazierte Oxley seine eruptiven Akzente und Impulseketten haargenau an den richtigen Stellen zwischen Saxophonattacken Diesners und Gumpers Pianokaskaden.

Eine Programmkomponente des Workshops Freie Musik ist seit jeher der Blick über den großen Teich ins Geburtsland des Free Jazz. In den USA wird, so scheint es, eine andere Art von kollektivem Zusammenspiel praktiziert als auf der von Individualisten geprägten europäischen Szene. Der Bassist William Parker brachte diese Spielhaltung im Namen seiner aktuellen Gruppe auf den Punkt: Parkers Quintett "In Order To Survive" spielte Powerplay-Free Jazz im Stile der 70er Jahre – eine Musik, die in ihrem archaischen Pathos aufwühlte und mitriß.

Zwischen Parkers Survival-Jazz und dem ebenfalls aus den USA angereisten Eugene Chadbourne liegen Welten. Im Duo mit Paul Lovens erzählte der Gitarrist und Banjo-Spieler Geschichten, wie sie der Lebensalltag schreibt: comicartige Geräuschminiaturen, die in sentimentale Country- und Westernsongs mündeten, um dann unversehens in archaische Noise-Orgien umzukippen. Bei aller Vielfalt an Sounds und Spielintensitäten, die auch in diesem Jahr auf dem Festival zu hören wären, ist es vielleicht gerade diese respektlose Spielfreude, durch die improvisierte Musik auch heute zu einem befreiendem Musikerlebnis wird.

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