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Jazzzeitung

2012/02  ::: seite 23

farewell

 

Inhalt 2012/02

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / break / Nachrichten aus der Jazzszene / kurz, aber wichtig Jazz-ABC: Alvin Queen no chaser: Der Auskenner Farewell: Abschied vom Multiinstrumentalisten Sam Rivers

TITELSTORY: Schüler der Musik
Branford Marsalis im Gespräch

GESCHICHTE -
Basies Weggefährten (4)
Mehr als „April In Paris“ – Benny Powells Posaune
Der Charme des Skizzenhaften
Eine Ehrenrettung für Duke Ellingtons Suiten

Berichte
Das Dan Tepfer Trio beim BMW Welt Jazz Award // Louis Moutin im Esslinger Jazzkeller // Zum Neuen Deutschen Jazzpreis 2012 // Preview: 41. Moers-Festival

Portraits
Monty Alexander // Bassklarinettist Ulrich Drechsler // Schlagzeuger Jens Düppe // Neues von e.s.t. // Hugo Siegmeth

Jazz heute und Education
„Jazz it!“ Germering // jazzahead! verleiht erstmals Preis für deutschen Jazzjournalismus // „Women in Jazz“ // Zur Frühjahrsarbeitsphase des Bundesjazzorchesters // Fortbildungskalender 2012 (pdf) // Abgehört: Der Song des Vizepräsidenten
Keith Jarretts Version einer alten Melodie

Rezensionen und mehr im Inhaltsverzeichnis

Pionier, Impulsgeber

Abschied vom Multiinstrumentalisten Sam Rivers

Geburtsdaten sagen nicht immer viel aus. Im Falle des am zweiten Weihnachtstag des vergangenen Jahres in Orlando, Florida, verstorbenen Sam Rivers sprechen sie Bände. Kurz vor dem am 25. September 1923 in El Reno, Oklahoma, geborenen Tenorsaxophonisten erblickten Illinois Jacquet, Frank Wess, Eddie „Lockjaw“ Davis (1922) und Dexter Gordon (1923) das Licht der Welt, nach ihm Lucky Thompson, Sonny Stitt, Teddy Edwards (1924) und Gene Ammons (1925).

Sam Rivers. Foto: Ssirus W. Pakzad

Sam Rivers. Foto: Ssirus W. Pakzad

Es ist die Generation der frühen Bebop-Tenoristen, und jener, die zwischen Swing, R & B sowie Bop vermittelten und in den 50er-Jahren mit dem Etikett „Mainstream“ mehr schlecht als recht versehen wurden. Rivers aber, dessen Name chronologisch aus Versehen in diese Gruppe gerutscht zu sein scheint, vermittelt schon zwischen Bop und Free, ja eigentlich Post-Bop und Post-Free, steht für die Loft-Ära der 70er Jahre. Sein Schallplattenwerk beginnt denn auch (sieht man von einer reichlich obskuren Tadd-Dameron-Session von 1961 ab) erst 1964, als die genannten Kollegen schon längst „Klassiker“ waren. Rivers klang kaum je wie ein Klassiker; sein unabhängiger Geist und seine unorthodoxe Spielweise machten ihn zu einem Musiker, der sich erst in der Umbruchszeit der 60er Jahre, als im Jazz kein Stein auf dem anderen blieb, voll entfalten konnte. Der jeglichen Konventionen abholde Musiker musizierte am besten mit Kollegen, die einige Jahre, ja Jahrzehnte jünger waren.

Das größere Publikum wurde auf den Saxophonisten aufmerksam, als er bei Miles Davis wirkte. Das 1964 live entstandene „Miles In Tokyo“ ist die einzige Platte, die der Trompeter mit Sam Rivers eingespielt hat. Rivers, ein Mentor von Davis’ damals erst 18-jährigem Schlagzeuger Tony Williams, kam auf dessen Empfehlung in die Band, und zwar als Nachfolger von George Coleman. Man sollte einmal gehört haben wie „Walkin’“, eigentlich ein harmloser 12-taktiger Blues, durch Rivers Solo plötzlich zeitweise formfreier Free Jazz wird. Nach Rivers Beitrag beschließen der Pianist Herbie Hancock und der Bassist Ron Carter erst einmal Free zu bleiben, bevor sie zum Blues zurückfinden. Rivers war ein Pionier und zeitlebens ein Meister des „in and out“ - Spiels, die zu einer Art Markenzeichen für ihn wurde. Heute ist es Allgemeingut moderner Jazzer geworden, doch wie provokant und beunruhigend muss es für damalige Hörer geklungen haben. Musikern der 60er-Jahre bot es eine Alternative zum radikalen Free Jazz jener Tage. Die Begegnung von Davis und Rivers war spannend, doch blieb sie eine Episode, denn ihre Ideen gingen in unterschiedliche Richtungen. Schon wenige Wochen später wurde er gegen Wayne Shorter ausgetauscht.

Wurde Rivers erst mit 40 „entdeckt“, so hatte Musik doch schon immer sein Leben geprägt. Sein Großvater Marshall W. Taylor brachte 1882 eine „Collection of Revival Hymns and Plantation Melodics“ heraus. Viele von Rivers’ Verwandten waren Musiker, einige auch Ärzte und Anwälte – keine Alltäglichkeit bei einer schwarzen Familie der 20er-Jahre. Sein Vater sang Gospels im Silver Quartet, einer Gruppe, die aus den Fisk Jubilee Singers hervorgegangen war. Begleitet wurden sie von seiner Frau am Klavier. „Sie reisten viel, und ich wurde während einer Tournee geboren. Mit drei oder vier lernte ich Violine und mit fünf spielte ich schon in der Kirche. Dann habe ich Klavier gelernt.“ Es blieb sein Zweitinstrument. Als sein Vater 1937 einem Autounfall zum Opfer fiel „hat meine Mutter als Lehrerin in Little Rock gearbeitet und so wechselte ich an die St. Bartolomew – Schule. Um aber im Schulorchester zu spielen, musste ich andere Instrumente beherrschen“, erinnerte sich Sam Rivers. „Innerhalb von zwei Jahren lernte ich Posaune, Bariton und Sopran. Die Posaune war mein Hauptinstrument. Ich konnte schon jüngere Schüler darin unterrichten.“ Die Ausdrucksmöglichkeiten auf der Posaune schienen ihm limitiert, so gab er sie zunehmend auf, da er mit 15 auf dem College angefangen hatte, sich dem Tenorsaxophon zuzuwenden, dessen Meister Coleman Hawkins und Lester Young schon seine Idole gewesen waren.

Sein Profi-Debut gab er in Kalifornien beim Blues-Sänger Jimmy Witherspoon. Nach dem Wehrdienst vertiefte er seine musikalischen Kenntnisse in Komposition, Viola und Violine am Bostoner Konservatorium. Mit seinem Bruder, dem Bassisten Martin Rivers, war er 1947 nach Boston gezogen und diese Stadt sollte zwei Jahrzehnte lang sein Hauptquartier sein. „Boston war damals der richtige Platz für junge Musiker und von denen gab es dort genug: Quincy Jones, Jaki Byard, Gigi Gryce, Dick Twardzik, Serge Chaloff, Joe Gordon. Es war seltsam für mich, die Kurse zu besuchen, in einem, Streichquartett zu spielen und dann abends in einer Jazzgruppe zu relaxen.“

In Florida, wo er zwischen 1955 und 1957 lebte, arbeitete er mit Dichtern, Sängern und Tänzern zusammen. Er hatte auch Gelegenheit, Billie Holiday zu begleiten. Als er nach Boston zurückkehrte, musizierte er mit dem als Pädagogen wichtigen Herb Pomeroy und leitete dann ein eigenes Quartett, dem der junge Tony Willliams angehörte. Um 1960 war Rivers – eine weitere Pionierleistung – einer der ersten modernen schwarzen Jazzmusiker, die pädagogisch tätig waren, und zwar am Berklee College, Boston.

Zu Beginn der 60er-Jahre führte ihn die Beschäftigung mit der Musik von Neutönern wie Ornette Coleman und Cecil Taylor ein Stück weit in Richtung Free Jazz. Trotzdem blieb er noch fest genug in den roots verankert, um mit Blues-Größen wie B. B. King und Miles T-Bone Walker zu musizieren.

Die sechs Monate bei Miles Davis genügten, aus Rivers einen bekannten Musiker zu machen: Er bekam einen Vertrag beim Kultlabel Blue Note, für das er unter anderem sein hervorragendes Debüt als Leader, „Fuchsia Swing Song“ aufnahm. Noch mit einem Fuß im Bop stehend, ging Rivers schon bei Blue Note bis an die äußersten Grenzen dieses Stilbereichs. Mit dem anderen Fuß stand er bereits im Free Jazz.

1967 übersiedelte Sam Rivers nach New York, wo er Komponist der Harlem Opera Society und ein enger Weggefährte Cecil Taylors wurde. In seinem Loft-Studio gab er auch Unterricht. Als er das mit seiner Frau Bea geleitete Rivbea Studio in Lower Manhattan vier Jahre später zu einem Auftrittsstudio umgestaltete, wo die Musiker frei von kommerziellen Überlegungen auftreten und aufnehmen konnten, begann eine neue Ära. Sam Rivers avancierte zur Vaterfigur der experimentellen New Yorker Szene. Wie einst der 13-jährige Tony Williams unter seinen Fittichen heranreifte, so verdankten nun andere jüngere Musiker, darunter Steve Coleman, viel seinen Impulsen. Rivea war das erste und berühmteste Studio der sogenannten Loft-Szene – ein Begriff, der bald praktisch synonym für Free Jazz der 70er-Jahre verwendet wurde. Unvergessene Alben jener Jahre sind Dave Hollands „Conference of the Birds“ (1972) und Rivers Meisterstück „Crystals“ (1974), das er mit einem 64(!)-köpfigen Free Jazz-Orchester verwirklichte. Sam Rivers war nun eine Leitfigur der Avantgarde, nicht nur als Musiker, der überall auf der Welt auftrat, sondern auch als Promoter und unermüdlicher Organisator der neuen Musik.

Obwohl er seine ganze Laufbahn hindurch aktiv blieb, wurde die graue Eminenz der Loft-Szene ab den eher konservativen 80er-Jahren etwas weniger wahrgenommen, obgleich er nun zur Band seines Jugendidols Dizzy Gillespie gehörte. Es fehlte im Spätwerk nicht an Alben eigener Musik, eher an deren Verbreitung. Als er 1998 mit seinem Rivbea’ All Star Orchestra für RCA das Album „Inspiration“ aufnahm, ein Meisterstück unter den zugänglicheren seiner späten Alben, hatte er fast 20 Jahre lang für kein größeres Label mehr aufgenommen. Wie energieberstend und immer wieder aufs Neue überraschend Sam Rivers noch im 21. Jahrhundert spielte, zeigen zum Beispiel die im Trio mit Kresten Osgood (dr) und Ben Street (b) entstandenen Alben „Purple Violets“ und „Violet Violets“. Natürlich unterrichtete er wie so viele Musiker seiner Statur im Alter an Universitäten, doch wie ein Rivers spielt, kann man – bei allem Know How einer akademischer Jazz-Institutionen – nicht lernen, man muss es leben. Dieser Musiker, für den vorfabrizierte Licks und überlieferte Spielregeln weniger Bedeutung hatten als Inspiration, dieser offene Geist, der mit jedem Ton aufrichtiges Erleben bekundete und sein olympisches Feuer wie ein Staffelläufer an so viele jüngere weitergereicht hat, wird uns fehlen. Oder, wie ein Youtube-Nutzer kommentierte: „88 is still to young to lose this man.“

Marcus A. Woelfle

 

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