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Jazzzeitung

2007/03 ::: seite 3

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Inhalt 2007/03

Inhaltsverzeichnis

STANDARDS

Editorial / News / break // kurz, aber wichtig
all that jazz: Die Welt der Avatare
no chaser: Der Druckfehlerteufel
jazzfrauen: Carla White
Farewell: Zum Tod des Klarinettisten Tony Scott


TITEL

Für eine Nacht oder fürs Ganze Leben?
Jazz meets Klassik– ein Statement von Roland Spiegel


DOSSIER -
MAHAVISHNU FOREVER
Original und Widmung • Von Hans-Jürgen Schaal


BERICHTE
/ PREVIEW
Marc Brenken hat die Ruhrgebiets-Jazzszene für sich entdeckt || Burghausen 2007 || Der Saxophonist Rosario Giuliani || New Generation Jazzwettbewerb 2007 || Neuer Deutscher Jazzpreis || David Sanchez Group in Memmingen || Das Trio CEG in Bad Pyrmont


 PORTRAIT / INTERVIEW
Zum 70. Geburtstag von Pierre Favre || Joachim Kühn und die Kalimba – eine interkulturelle Begegnung

 JAZZ HEUTE
Jung, talentiert, deutsch sucht Veranstalter
ACT fördert mit der Reihe „Young German Jazz“ gezielt junge Talente
Förderung mit System

Bundestag debattiert über Jazz


 PLAY BACK / MEDIEN

CD.
To Bi or not to bi
Biréli Lagrène auf Djangos Spuren

CD.
CD-Rezensionen
CD.
Analog - Digital
CD.
Critics Choice
CD. Scheffners Liste
DVD. DVD-Rezensionen
Bücher:
Neue Jazzbücher zu Lee Morgan und zur Jazzszene der DDR || Lee Tanner: The Jazz Image
Noten. Peter Wicke, Wieland & Kai-Erik Ziegenrücker: Handbuch der populären Musik und anderes


 EDUCATION
Ausbildung. Ausbildungsstätten in Deutschland - Fortbildungen, Kurse (pdf) (62 kb)
Abgehört 49. Auf dem Jazzgitarren-Olymp (1/2)
John Scofields Solo über Pat Methenys „The Red One“

Singing Drums

Zum 70. Geburtstag von Pierre Favre

Sich mit der Sprache einem Musiker zu widmen, dessen klangliches Differenzierungspotenzial allein die Zahl der zur Verfügung stehenden Adjektive übersteigt, scheint nur als Annäherung vorstellbar. Und so bleibt, um es vorwegzusagen, die Magie des Klingenden dem Schlagzeuger Pierre Favre vorbehalten. Sein Weg gleicht dem eines Musikers, der bereits in einer frühen Phase seines Schaffens alles erreicht, was man sich in seinem Metier nur wünschen kann. Er spielt mit einigen der bedeutendsten Jazzmusikern seiner Zeit, und zwar mit Amerikanern ebenso wie mit Europäern; er ist ein gefragter Big-Band-Drummer, ein All-Round-Talent. Manchem hätte das genügt, doch Pierre Favre begab sich auf einen anderen, einen langen Weg – von der swingenden Selbstverständlichkeit des Jazzschlagzeugers hin zu einer hochreflektierten, zuweilen auch komponierten und dabei das Element des Spontanen keineswegs ausklammernden Klangsprache. Er hat sich und uns neue Räume erschlossen, Räume, in denen wir tanzen und nachdenken können. Tanz und Turbulenz der Gedanken. Erinnerungen und Vergegenwärtigungen. Spiel mit der Zeit und den Zeiten. Mit Pierre Favre auf den Spuren des Klanges. Der Perkussionist als Poet, der Schlagzeuger als Klangmaler, der Komponist als Geschichtenerzähler, der Improvisator als balancierender Artist auf dem Hochseil.

Pierre Favre 1977. Foto: Ueli Nüesch/ECM

Bild vergrößernPierre Favre 1977. Foto: Ueli Nüesch/ECM

In einer Zeit, in der Europas Jazz begann, zu sich selbst zu finden, entdeckte Pierre Favre seine Chance, eine eigene Musik auszuformen. Das begann im Trio mit dem Bassisten George Mráz, dann mit Peter Kowald am Bass und Iréne Schweizer am Piano, auch im Quartett mit dem Saxophonisten Evan Parker. Mit Phantasie und Vitaliät wurde ein Schleier von der konventionellen Art des Jazzmusizierens gezogen. Doch Pierre Favres Spiel erwies sich als viel zu sensibel und viel zu individuell, um in die Klischeevorstellungen vom Free Jazz zu passen. Darin gleicht er Iréne Schweizer, mit der er bis in die jüngste Zeit immer wieder, auch im Duo, zusammengefunden hat. „Es ist,“ sagt Pierre Favre, „ein Glücksfall einer langen, unabhängigen und doch gemeinsamen Entwicklung.“ Und er fügt hinzu: „Unser Spiel lacht.“

Der Weg zu einem neuen Klangraum, der sich, wie von einem bildenden Künstler oder Literaten ersonnen, immer wieder zu einer neuen Kammer öffnet, beinahe labyrinthisch, aber nicht im Ungewissen verlierend – dieser Weg, auf dem Pierre Favre einen roten Faden ausgelegt hat, führte ihn über das Solospiel. Es bedurfte des Selbstbewussteins, sich mit dem Schlagzeug allein genug zu sein, um das Instrument in seinem klingenden Reichtum zu erschließen, um das Rhythmische mit dem Melodischen zu verbinden und eine orchestrale Version von Perkussion zu entwickeln. Bezeichnend schon der Titel des ersten Solo-Albums von 1969: „Drum Conversation“. Pierre Favre denkt von Anfang an dialogisch oder orchestral, nie egozentrisch. Was mit der Erweiterung des Schlagzeugs durch zahlreiche Klangkörper um das herkömmliche Set herum begann, führte – durchaus folgerichtig – zu einer von Pierre Favre einberufenen Versammlung mehrerer Schlagzeuger.

„Singing Drums“ – was für ein faszinierend funkelnder Name für ein Ensemble, das die Kulturen dieser Welt zu umarmen begann, ohne deren Ressourcen ausrauben oder das folkloristische Kolorit als Beute nach Hause tragen zu wollen. Der Schweizer Pierre Favre ist erlebensreich eingetaucht in afrikanische, indische, brasilianische und – erst jüngst wieder, nun im Dialog mit der chinesischen Pipa-Spielerin Yang Jing – in fernöstliche Klangwelten. Dabei hat er seine europäische geprägte Mentalität nie verleugnet – Anregungen aus allen Himmelsrichtungen aufnehmend, das Europäische in der Welt spiegelnd und die ganze Welt in einer kleinen Trommel wiederfindend. Von da aus betrachtet ist alles offen, führt der Weg von einer Stufe zur nächsten, öffnet sich ein Fenster nach dem anderen: „Window Steps“. Mit der gleichnamigen Produktion stellte sich der Perkussionist in das imaginäre Kraftzentrum der Band. Dann begab er sich mit wechselnden Besetzungen auf die Suche nach einer Art Arche Noah des Klanges, fand er quasi in einer Soundschale zu seinem kollektiven Medium des Musizierens. Das Zarte und das Ätherische ist ebenso präsent wie das Erdige und das Schwere, das Elektrische ebenso wie das vom Wind und von den Wellen Berührte, der Gesang ebenso wie die Energie der Elemente.

„Singing Drums“, ursprünglich ein Quartett mit vier Schlagzeugern, erlebte eine Transformation in eine Gruppe mit zwei Schlagzeugern und zwei Bläsern. Im „European Chamber Ensemble“ kommen Gitarre, Violine, Viola und Bass oder auch Gitarre, Saxophon, Tuba, Bassgitarre und Kontrabass hinzu. Eine Welt des Klingenden, bewegt und beflügelt vom Spiel der Perkussionisten, eine orchestrale Welt, in der sich die unterschiedlichen Instrumentalfarben austauschen, gegenseitig inspirieren, komplementieren. „Es gibt Zeiten“, sagte er in einem Gespräch mit Patrik Landolt, der das Schaffen von Pierre Favre seit Jahren auf Intakt Records dokumentiert, „da muss ich Stücke schmieden, ich muss mit Kraft und bei großer Hitze die Substanz herausschlagen. Ich arbeite mit verschiedenen Methoden und komme improvisierend zum Ergebnis.“ „Ganzheitlich“ scheint mir ein Wort, das Pierre Favre gut zu charakterisieren vermag. Ganzheitlich denkt und empfindet er – beim Komponieren und beim Improvisieren, im Umgang mit Melodischem und Rhythmischem. Und er weiß die in unterschiedlichen Bezugsfeldern gewonnenen Erfahrungen zu verinnerlichen – die mit ethnischen Kulturen ebenso wie die mit Neuer Musik oder mit musisch-interdisziplinären Kooperationsformen. Bei alledem ist in völlig anderer Gestalt auch noch immer etwas vom Jazz enthalten. Schlagzeuger wie Baby Dodds und Big Sid Catlett, die Pierre Favre gern zitiert, haben schon in einer Frühphase des Jazz davon gesprochen, dass Swing nichts anderes bedeute, als die Melodie zu gestalten. Pierre Favre fügt hinzu: „Und wenn man von der Melodie spricht, dann meint man natürlich auch den Atem, den Raum, die innere Kraft, die Struktur.“

Für die vier Saxophonisten des „Arte Quartett“ und für seinen Seelenverwandten, den Tubisten und Serpent-Spieler Michel Godard, entwarf Pierre Favre Klangstücke, die einer Chorphantasie gleichen, einer Suite für Individualisten mit starkem Kollektivgeist. Tanz und Turbulenz der Gedanken. Erinnerungen und Vergegenwärtigungen. Der Perkussionist fädelt sich in die Stimmen ein, wird selbst zu einer solchen, schafft Raum, gibt das Schrittmaß vor oder treibt voran. Behutsam und entschlossen. Mit einer Sensibilität, die auf innerer Kraft beruht. Da gibt es die beinahe archaisch anmutende Dimension des Trommelns ebenso wie den ätherischen Klang ferner, unbekannter, uns nahekommender und wieder entschwindender Welten. Handfestes Handwerk, das an die Schweizer Tambouren-Tradition denken lässt und klangforschender Umgang mit den Materialien, der die Werkstatt in ein Labor verwandelt.

Wie Michel Godard wandert auch Pierre Favre durch unterschiedliche Zeitebenen. Er komponiert nicht unter Ausschluss der Vergangenheit, greift nicht nur auf Anregungen aus anderen Kulturen, sondern auch auf frühe Schichten unserer europäischen Musik zurück, bewegt sich auf einer Schiene, die vom Mittelalter und der Renaissance bis in die Gegenwart führt. Dabei zitiert er nicht einfach Vergangenes, er reflektiert und sublimiert, bedient sich des individuellen und kollektiven Gedächtnisses. Und er hat Mut zum Melos. Melos bedeutet Bekenntnis. Dazu der Drive körperlichen Erlebens, das Spiel mit der simultanen Existenz unterschiedlicher Zeitebenen, die bewegende Kraft der Lebenselixiere. Wer immer in solche Bereiche vordringt oder mitgeführt wird, ohne sich seinen Zustand begrifflich bewusst machen zu können oder zu wollen, kann sich wohl dem Ereignis des Plötzlichen und einer vieldeutig aufflammenden Faszination nur schwerlich einziehen. Melancholia lächelt milde von oben. Favres Musik ist voller Geschichten, voller Bilder. Aber es sind dies keine Gebilde, die man mit nach Hause tragen kann. Eher aufleuchtende Wasserfarben, die sich im Fluss sogleich wieder verlieren.

Kein Journalist, kein Literat hätte Pierre Favres Musik trefflicher beschreiben können als er selbst mit der Bezeichnung „Poetry in Motion“.

Was im Quartett mit den Perkussionisten Paul Motian, Fredy Studer und Nana Vasconcelos begann, hat Pierre Favre in unterschiedlichen Spielkonstellationen fortgesetzt. Die Trommeln gemeinsam singen zu lassen, ist dabei ebenso wichtig wie die Kollegialität, ja die Solidarität unter den Schlagzeugern. Pierre Favre gibt seine Erfahrungen gerne an nachwachsende Musiker weiter und wird dabei mitunter selbst zum Lernenden. Einer der aus seinem Einflusskreis hervorging, Lucas Niggli, ist für Pierre Favre zum musikalischen Partner geworden. „Unser Verhältnis“, bekennt Pierre Favre, „wird von Großzügigkeit geprägt. Wir kennen uns so gut, dass wir auch schon mal gleichzeitig den gleichen Fehler machen.“ Aus solchen Sätzen spricht nicht nur Humor, sondern auch Souveränität. Zugleich geht es ihm, dem im Juni 1937 Geborenen, darum, „ein inniges und intensives Verhältnis zur Musik zu leben, so, als hätte ich mich erst gerade in die Musik verliebt.“ Diese fast jugendlich zu nennende Begeisterungsfähigkeit hat er sich erhalten, ja, ich habe gar den Verdacht, sie ist mit den Jahren stärker geworden.

Pierre Favre begreift sein Leben als von nomadischer Wesensart. Vorübergehend war er in Paris zu Hause. Mit der Sängerin Tamia entstanden Klangdialoge von erlesener Sensibilität an den Rändern der Stille. Aus der Westschweiz kommend, lebte er fast immer in anderen Kulturen – eine Erfahrung, die nicht zur Entfremdung führen muss, die sehr wohl gelebten kulturellen Reichtum bedeuten kann – einen Reichtum, den Favre, seit er Mitte der 90er-Jahre nach Zürich zog, an diesen Ort mitgebracht hat. Er ist mit seiner Musik rund um die Welt gereist und mit Musikern aus allen Erdteilen zusammengetroffen. Doch seine eigentliche Heimat ist wohl jener Raum, der sich öffnet, wenn er zu spielen beginnt. Ein Raum, in den er uns einlädt, ein Raum, der noch nicht möbliert ist, ein Raum, den er erst im Prozess des Musizierens gestaltet – kraftvoll und feinsinnig, phantasievoll und sehr human. „Heiterkeit und Traurigkeit“, so Pierre Favre, „gehen ineinander über wie im wirklichen Leben.“ Das Atmen ist wichtig in dieser Musik, im metaphorischen ebenso wie im buchstäblichen, im physischen Sinne. Das Atmen und die Leichtigkeit des Tänzerischen. „Tänze“, sagt Pierre Favre, „haben etwas Elastisches, sie gehen mit dem menschlichen Atem. Zum Tanz kann man nicht marschieren.“ Aufatmen und Bewegung. Die Einladung ist ausgesprochen: Wir dürfen uns anschließen.

Bert Noglik


MDR

Figaro am Abend – Jazz
Freitag, 8. Juni, 23.30–24.00 Uhr

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