Jazzahead! mit zwei Ausrufezeichen

„Hinter diese jazzahead! wollten wir zwei Ausrufezeichen setzen“, sagt Sybille Kornitschky, Leiterin der jazzahead! in Anspielung auf die beiden großen Themen der diesjährigen Ausgabe: Neben dem Partnerland Niederlande, das sich sowohl auf der Messe als auch im musikalischen Programm von seiner besten Seite zeigte, stand auch der Jazz aus Afrika in diesem Jahr im Mittelpunkt.   Tineke Postma Aria Group Tineke Postma, eine der herausragenden Persönlichkeiten der lebendigen niederländischen Musikszene, ist vor allem auch eine einfühlsame Zuhörerin. Solche Qualitäten offenbarte ein Showcase-Konzert mit ihrem aktuellen Trio, auch Aria Group genannt. Gemeinsam mit Robert Landfermann am Bass und Tristan Renfrow am Schlagzeug entführte sie das Publikum auf eine modale Klangreise voller klanglicher Innovation und emotionaler Tiefe. Es ist nachvollziehbar, warum schon Wayne Shorter voll des Lobes über die talentierte Niederländerin war, sieht er doch gewissermaßen hier ein Erbe zeitloser Innovation weiter gepflegt. Erfreulich genug ist es, dass durch die Beteiligung des Kölner Bassisten Robert Landfermann auch eine künstlerische Verbindung zum niederländischen Nachbarland lang gelebt wird – solche grenzübergreifenden Kooperationen auszubauen, ist ja auch Anliegen der jazzahead. DZ’OB (UA) Die Ukraine verfügt nicht nur über eine verschwenderische Fülle hochtalentierter, bestens ausgebildeter …

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Bedeutungsvoll und empathisch: Lucia Cadotsch und AKI im Dortmunder domicil

Text und Fotos: Stefan Pieper. Lucia Cadotsch, in Berlin lebende Schweizer Sängerin und Komponistin mit einer rätselhaften Art von Empathie und Emotion, betörte das Publikum im Dortmunder domicil. Ihre Songs, voller Mystik und Melancholie, entführen in eine Welt voller Metaphern. AKI Der energetischen Interaktion mit ihrer Band AKI tut so etwa keinen Abbruch – im Gegenteil! Aki, so heißt auch Lucia Cadotschs zehntes Album, ist ein „non-binärer“ Name – in Finnland heißen Jungen so, in Japan ist er für Mädchen gebräuchlich. Diese Art von Doppeldeutigkeit ist Programm für Lucia Cadotsch – eben weil strikte Zuordnungen nicht ihre Sache sind – egal wo. Anstelle von Kit Downs, der auf dem Album die Tasten bedient, macht im domicil : Jozef Dumoulin  seine Sache genauso engagiert. Leif Berger hat am Schlagzeug Platz genommen – auf wie viel explosives Temperament man sich in den folgenden 75 Minuten einlassen konnte, hat wohl mancher zu Beginn des Live-Sets noch nicht erahnt. Als fantasievolles Bindeglied – und damit auch als weitere starke Inspirationsquelle für Lucia Cadotsch – waltet Bassist Phil Donkin. Tiefste Tiefe Cadotsch singt ihre Songs, die aus tiefster Tiefe oder …

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Shortcut beim Jazzfestival Münster: Fenster zur aktuellen Musik Europas

Von Stefan Pieper. Auch in seiner kleinen „Shortcut“-Ausgabe bewies das Internationale Jazzfestival Münster zum Jahresauftakt seine verlässliche hohe Qualität und Relevanz, vor allem durch Premieren, welche die Fenster für die reiche aktuelle Musik in Europa weit öffnen – ebenso wie ein Konzert in der Dominikanerkirche, das einen spannenden Bezug zur Historie und reichen kulturellen Gegenwart der Stadt herstellte. Auf der Höhe der Zeit Schmücker kuratiert dieses Festival seit fast 40 Jahren und erneuert es immer wieder auf der Höhe der Zeit. Und das lief direkt zu Beginn der Konzert-Trilogie im Münsteraner Theater auf eine Zelebration maximaler künstlerischer Aufbruchsstimmung hinaus: Die junge italienische Violinistin Anaïs Drago ist „die“ Entdeckung schlechthin! Zusammen mit Federico Calcagno, der Klarinette und Bassklarinette spielt, und Max Trabucco am Schlagzeug und Perkussion entfaltet sich ein innovativer Musizieransatz, der spektakulären Gleichklang zwischen improvisatorischer, virtuoser, neutönerischer und lyrischer Bravour herstellt. Kann man ein Instrument mehr lieben als diese junge Musikerin, die unter anderem das Orchestra Nazionale Jazz Giovani Talenti unter Paolo Damianis Leitung zu einer ihrer maßgebenden Talentschmieden zählt? Sie versteht und behandelt ihr Instrument ganzheitlich, so viel ist hör-, sicht- und spürbar. Zunächst …

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Mit Liebe bei der Sache – das Südtirol Jazzfestival Alto Adige

Von Stefan Pieper. Auch die zweite Hälfte des Südtirol Jazzfestival Alto Adige bot eine breite Vielschichtigkeit und immer wieder hochmotivierte, betont „authentisch“ agierende Bands, die mit ihrem versunken lauschenden Publikum in anregender Atmosphäre zu einem Ganzen verschmolzen. Lohn für das ganze Engagement der zahllosen Bands und Musiker und ebenso des Festivalteams: Schon am vorletzten Abend war klar, dass diese Ausgabe einen Publikumsrekord verzeichnen würde. Im satten Grün der Weinberge Mitten in der Bozener City unweit des Hauptbahnhofes startet eine Seilbahn hinauf nach „Oberbozen“, das eigentlich nur eine Ansammlung kleinerer Dörfer, zahlreicher Gastro- und Hotelbetriebe aber auch vieler verstreuter Siedlungen ist. Die Seilbahn wird von zahlreichen Bewohnerinnen und -bewohnern als Pendel-Verkehrsmittel zur großen Stadt genutzt. Und so transportiert sie auch das Publikum beim Südtirol Jazzfestival Alto Adige zu einer Neben-Location des Festivals. Aus milchigen Wolkenschleiern erhebt sich das mächtige Schlern-Massiv, während die Weinberge in sattes Grün getaucht sind. Die Luft riecht immer noch etwas nach der Regenfront, die jetzt aber endlich vorüber ist. Das ist die Stunde des Shuteen Erdenebaatar Quartetts. Hinter diesem exotischen Namen verbirgt sich eine extrem ausgeschlafene Combo aus München, begründet von der …

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Ralph Alessis Trio im Glasfoyer des Theater Krefeld auf Einladung des Jazzklub Krefeld – Ralph Alessis (t), Mark Ferber (d), Florian Weber (p) | Foto: Stefan Pieper

Mit schwebender Spontaneität: ein überwältigendes Ralph Alessi Trio

Von Stefan Pieper • Der US amerikanische Trompeter Ralph Alessi stammt aus der Bay Area von San Francisco, studierte bei Charlie Haden und ist heute in der New Yorker Szene aktiv. Ebenso tritt er als engagierter Lehrender in Erscheinung, der sogar eine eigene Bildungsinstitution, die School for Improvisational Music in Brooklyn (NY) ins Leben gerufen hat. Mit dem Pianisten Florian Weber steht er in einer geradezu symbiotischen Beziehung. Als neue, bereichernde Komponente ist der Schlagzeuger Mark Ferber hinzugekommen, dessen spektakuläre Finesse und tiefes Verständnis für die Musik das aktuelle Trio des US-Trompeters komplettiert. Die Triobesetzung überwältige im Glasfoyer des Theater Krefeld auf Einladung des Jazzklub Krefeld. Improvisation heißt, einen Moment aufzugreifen und diesen in etwas Neues, Großes zu verwandeln. Das gilt auch für eigentliche Makel: Einer der faszinierendsten Aspekte des Konzertabends mit diesem Weltklasse-Trio resultiert aus einer scheinbaren kleinen Klavierkatastrophe: Da haben die Saiten einer hohe Taste des Flügels kurzfristig ihre Stimmung verloren, was schon einmal passieren kann. Wo viele sofort das Konzert unterbrechen, den Veranstalter verklagen oder panisch nach einem Klavierstimmer rufen, bleibt Pianist Florian Weber völlig tiefenentspannt.   Den Moment in etwas Neues, Großes …

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Dunkle Andacht im spirituellen Raum: Bohren und der Club of Gore bei urban urtyp in der Bochumer Christuskirche

(von Stefan Pieper) „Bohren und der Club of Gore” wurden schon mit allerhand Attributen beschrieben – eines davon lautet immerhin „Horror-Jazz” –, die aber alle irgendwie in ein schwarzes Loch hinein laufen, wo ein Mysterium mit magischer Anziehungskraft übrig bleibt: Langsam ist die Musik, manchmal sogar noch langsamer. Oder sogar extrem langsam. Das gibt Raum. Und zwar für den Raum. In dem viele hundert versunken lauschender Menschen in Bochums Christuskirche, diesem freigeistigen Kulturort, zu Teilnehmenden werden. Nach fünfjähriger Abstinenz legten sie im Jahr 2020 ein überzeugendes Comeback hin – zuerst mit ihrem neuen, cineastisch reichhaltigen, aber zuverlässig düsteren Album „Patchouli Blue” und nun auch mit einer internationalen Live-Tournee. (Am 26. Mai geben sie sich in Augsburg die Ehre…) Schwere Klangflächen füllen ein Metrum, das so langsam wie Glockenschläge um Mitternacht dahin wandelt. Jeder Harmoniewechsel ist ein Ereignis für sich, weil eben in so weiträumige Taktung gesetzt. Keine heile Welt und bloß nichts in Dur – das ist Balsam für die Seelen der vielen meist dunkel gekleideten „Karnevalsflüchtlinge” an diesem Rosenmontag, an dem der Auftritt stattfindet. Alles entfaltet durch die radikale Minimierung von Licht und Tempo …

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Klang-Farben von Tomeka Reid und Recursion-Kollektiv in der Stadtkirche Moers

(Von Stefan Pieper) Improvisor in Residence – dieses Arbeitsstipendium der Kulturstiftung NRW für eine Stadtmusikerin oder einen Stadtmusiker rund um das Moers-Festival ist seit seiner Einführung im Jahr 2008 zur Erfolgsstory geworden. Damit wechseln sich jedes Jahr aufs Neue die kreativen Farben ab, mit denen der Geist des Festivals immer wieder neu in die Stadtkultur hineinstrahlt. Ein großer Moment ist das alljährliche Übergabekonzert. Der aktuelle Wechsel erfolgte von der Chicagoer Cellistin Tomeka Reid zum „Recursion-Kollektiv“, wohinter sich die drei jungen Elektronik-Musiker Christopher Retz, Steven Koch und Jan Krause verbergen. Das gemeinsame Miteinander in der Evangelischen Stadtkirche lief auf Verschmelzung für alle Sinne hinaus. Ein Streichinstrument, eine E-Gitarre und viel Elektronik plus eine konsequent auf die Spitze getriebene Lichtregie in einem Kirchenraum, der während dieser intensiven Stunde so funktionierte, als wäre er zu nichts anderem gebaut worden. Das konnte man zumindest imaginieren inmitten dieses synästhetischen Strudels aus Klang, Tönen, Farben, Frequenzen und Lichtimpulsen. Tomeka Reid, die universelle amerikanische Cellistin, die zu diesem Anlass noch einmal aus Chicago nach Moers angereist kam, ging geschmeidig in diesem Setup auf. Ein fünfter Improvisator war der Lichtdesigner Valentin Brux, der …

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Ein gelungener Start nährt den Wunsch nach Fortsetzung: BurgJazz 2022 im westfälischen Lüdinghausen

(Text und Fotos von Stefan Pieper) Alte Kulturdenkmäler wollen nicht einfach nur Museen sein. Sie leben, wenn in ihnen Kultur von heute stattfindet. Aktuell feierten in Lüdinghausen gleich zwei Burgen ihren 750. Geburtstag – was allein schon Anlass genug für ein Festival ist. Der erste BurgJazz bespielte ein ganzes Wochenende sämtliche schöne Plätze in der charmanten westfälischen Kleinstadt. Noch offen ist, ob aus diesem einmaligen Jubiläumsevent eine regelmäßige Einrichtung wird. Man kann nicht lautstark genug dafür plädieren! Das Publikum war hin und weg – aber auch die Musikerinnen und Musiker ließen sich von der Atmosphäre an diesem Ort anstecken. Zahlreiche auch von weitem angereiste Musikfans genossen musikalische Erlebnisse im Burghof und auf den Parkwiesen drumherum, ließen sich treiben und lauschten konzentriert der Gegenwart im internationalen europäischen Jazz. Überwältigender Einstieg Lief das Ganze so rund, weil der Einstieg am Freitagabend so grandios, ja überwältigend gelang? Die belgisch-ghanesische Sängerin Esinam und ihre Band bringt die Sache gewaltig in Fahrt mit rhythmischem Druck, aber auch einer immensen Farbenvielfalt. Diese heiße Mélange aus Jazz und Afrobeat machte schon fast den einstigen Spirit der African Dance Nights in Moers lebendig. …

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Nicole Johänntgen solo 2: „Ich kann das Wort Zeit neu interpretieren“

(Von Stefan Pieper) Eng getaktete Zeitmaße sind überwunden auf der zweiten Solo-CD der Saxophonistin Nicole Johänntgen. Hier sind – wortwörtlich genommen – höhere Dimensionen im Spiel. Aus einzelnen Tönen werden Intervalle, die sich zu Motiven formen. Immer neu und immer anders gefärbt. Vielleicht so, wie ein Naturszenario am Morgen allmählich erwacht? Das hektische Zeiterleben bleibt irgendwo unten im Tal zurück, wenn die Musik weiter auf diesem Weg nach oben trägt. Die in Zürich lebende Saxophonistin wählte für ihre zweite Soloaufnahme die Capella di San Gottardo – in 2100m Höhe gelegen auf dem Scheitelpunkt der berühmten Alpenpassstraße – mit einer nachhall-gesättigten Akustik, die manchmal fast selbst zu einem Musikinstrument wird. Ist der Mensch nicht ganz klein angesichts der Größe einer solchen Berglandschaft? Oder ist er doch ganz im Mittelpunkt? Das improvisierte Spiel ganz mit sich allein wurde zur Meditation über solche Seinsfragen. Freiheit und Logik Erst nach vier Stücken formen die Töne und Motive dieses Soloalbums zum ersten Mal eine zusammenhängende Melodie, was wie die Erfüllung eines Planes wirkt, in dem trotz aller assoziativen Freiheit viel Logik im Spiel ist. Aber Nicole Johänntgen ist eine viel …

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Das Moers-Festival 2022 wurde seinem Wesenskern treu und blickt in die Zukunft

(Text und Fotos von Stefan Pieper) Obwohl das neue Konzept noch die Unfertigkeit eines Neustarts verkörpert, fließt der Strom beim Moers-Festival ungebremst weiter. In den letzten beiden Jahren habe viele neue, digitale Vorstöße das künstlerische Schwergewicht beim Moers-Festival durch die Pandemie getragen. Bei der 51. Ausgabe zum 50. Geburtstag behauptete sich – trotz eines aufwändigen virtuellen Überbaus – der gewachsene, analoge Wesenskern des Festivals als überlegene Kraft. Spaß und Kreativität Erfreulich stimmen die spontanen Schilderungen von Menschen, die zum allerersten Mal aufs Moers-Festival kommen und hier das Besondere dieses Ortes spüren: Die israelische Multiinstrumentalistin und Komponistin Maya Dunietz beschrieb, dass sie so viel Spaß und Kreativität wie hier selten anderswo erlebe. Bei mehreren grundverschiedenen Konzert-Auftritten saugte sie viel davon auf, um noch mehr davon zurück zu geben. Ihre spirituelle Komposition „Hai Shirim“ nahm es mit älteren, aber auch neuen Liedern in arabischer Sprache auf, hier in Szene gesetzt von einem fragilen Instrumentalensemble und dem Mädchenchor am Essener Dom. Einen Abend später kostete Maya Dunietz die Möglichkeiten der Orgel in der Stadtkirche mit kreativer Lust aus. Schließlich hatte die Israelin auch das letzte Wort beim Festival …

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