Audience Development (11) – Warum ist Jazz relevant?

Anfang 2012 veröffentlichte der Münchner Musiker Michael Hornstein unter der Überschrift „Betriebsstörung“ einen vielbeachteten Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem er dem deutschen Jazz mangelnde gesellschaftliche Relevanz bescheinigte und die Ursachen dafür als hausgemacht ansah. In der Folge wurde kurzzeitig rege über Jazz diskutiert, das strukturelle und politische Bewusstsein der Jazzszene scheint seither leicht gestärkt. Dreieinhalb Jahre später ist die Diskussion jedoch längst verebbt, der jazzinteressierte Anteil der Bevölkerung – gemessen in „Marktanteilen“ – stagniert auf konstant niedrigem Niveau. Alles halb so wild also? Hatte Hornstein am Ende sogar recht? Ist Jazz wirklich nicht mehr relevant?

Auch wenn diese Frage vermutlich genug Stoff für ein ganzes Buch liefern könnte, versuche ich mich an einem kurzen Abriss. Das Wichtigste zuerst: Jazz ist aus vielen Gründen nach wie vor relevant – von denen jene, die in der Musik selbst und der ihr zugehörigen Geisteshaltung verankert sind, nie an Aktualität verlieren, während jene, die sich um die Musik herum bilden (Rebellion/ Freiheitsdrang/ Exzess/ Politisierung), durchaus modischen Schwankungen unterliegen. In der Folge beleuchte ich daher nur die Gründe „ohne Verfallsdatum“.

1.) Improvisation und Innovation

Zentrales Merkmal des Jazz ist der hohe Anteil an Improvisation. Die Improvisation (von lat. improvviso = unvorhergesehen, unerwartet) kann „frei“ und ohne Vorgaben sein oder sich auf eine bestehende Vorlage beziehen. In beiden Fällen suchen die Improvisierenden auf kreative Weise nach möglichen neuen Wegen der musikalischen Gestaltung. Dieses fantasievolle Spiel mit Möglichkeiten hält die Musik frisch und bewahrt sie (und ihre Akteure) vor einschläfernder Routine.

Keine andere Musikform, erst recht keine der derzeit populären Formen, räumt der Improvisation ernsthaft Platz ein oder nimmt sie gar als Basis für das Entstehenlassen musikalischer Formen. Das spiegelt einerseits den Optimierungswahn, das zwanghafte Minimieren vermeintlich zeitraubender Umwege in der spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft wider, legt jedoch andererseits auch deren Innovationsstau offen, das kurzfristige Denken in Problemlösungsstrategien statt der Suche nach langfristig tragfähigen Alternativen. Was sich schon immer gut verkauft hat (bewährte Songstrukturen, einfache Harmonien und Melodien, mitsingbare Refrains oder Hooklines, ansonsten musikexterne Parameter wie Sex-Appeal und imposante Bühnenshows), wird stets aufs neue aufgekocht. Wenn es sich – wie momentan der Fall – nicht mehr so gut verkauft, wird einfach mehr davon an zahlreicherer Stelle aufgekocht. Schmeckt das Gericht dann allzu fade, tröstet man sich mit Reminiszenzen an die gute alte Zeit und monetarisiert ansonsten jene angrenzenden Bereiche, die mit der Musik selber nichts zu tun haben – Konzerttickets, Abspielgeräte, Merchandise-Artikel…

Auf dem Papier funktioniert dieses Prinzip sogar. Zumindest, wenn man den Sinn von Musik in ihrer kommerziellen Verwertbarkeit vermutet. Langfristig tragfähig ist es jedoch nicht.

Natürlich kann Jazz nicht die Welt retten – die Fähigkeit zur Improvisation aber, welche auf dem Gebiet der Musik am ehesten im Jazz beheimatet ist, ist von unschätzbarem Wert für Mensch und Gesellschaft und verliert nie an Relevanz.

2.) Kommunikation und Interaktion

Jazz ist in hohem Maße eine kommunikative und interaktive Musik. Die Musiker improvisieren miteinander, führen (unter-)bewusst und in Echtzeit musikalische Gespräche, tragen alle gemeinsam zum Gelingen eines Musikstücks bei. Da sie mitunter gezwungen sind, ihr Spiel in Sekundenbruchteilen an veränderte Gegebenheiten anzupassen, bleiben sie stets achtsam. Das macht Jazz nicht nur zu einer der lebendigsten Musikformen, sondern hebt ihn auch in puncto Gemeinschaftssinn aus der Masse hervor. Spontane, unvorbereitete Jam-Sessions mit Musikern, die sich nie vorher getroffen haben und sich verbal gar nicht verständigen können, weil sie unterschiedliche Sprachen sprechen? Kein Problem!

3.) Interesse an Fremdartigem

Als Verbindung verschiedener Musikeinflüsse aus unterschiedlichen Kulturen entstanden, ist Jazz seit jeher eine offene und neugierige Musikform. Ob afrikanische Rhythmen, indische Ragas oder asiatische Instrumente – die spielerische Integration des Fremden ist ein wesentliches Merkmal des Jazz. Dabei geht es in aller Regel nicht um das Schielen nach verkaufsträchtigen Trends, sondern um einen Zugewinn an musikalischer Substanz.
Gerade in Deutschland ist ein derart konstruktiver Umgang mit Integration von größter Relevanz.

4.) Utopisches Potential

Jazzbands sind funktionierende kleine Demokratien. Jeder Spieler genießt ein hohes Maß an individueller Freiheit und trägt gleichzeitig zum Gelingen einer gemeinsamen Sache bei. Die Entwicklung einer eigenen musikalischen Persönlichkeit, mit all ihren Ecken und Kanten, wird nicht nur toleriert, sondern ist ausdrücklich erwünscht. Hierarchien bleiben flach, Gagen werden zumeist gleichberechtigt geteilt. Läuft es wirtschaftlich schlecht, werden Kollektive gebildet und Initiativen gegründet, deren Forderungskataloge nicht auf die persönliche Bereicherung einzelner, sondern auf die Sicherung eines Auskommens für möglichst viele der Beteiligten abzielen.
Ein so friedvolles und konstruktives Miteinander taugt ohne weiteres als utopischer Gesellschaftsentwurf, deren Existenz ebenso wertvoll wie erhaltenswürdig ist.

Was läuft also falsch, wenn der Jazz trotz dieser herausragenden Fähigkeiten und Eigenschaften ein Nischendasein fristet? Es gibt doch genügend Menschen, die sich für gute, handgemachte Musik, Gleichberechtigung, Integration und alternative Gesellschaftsformen interessieren? Wie kann es sein, dass das Wirtschaftsmagazin brand eins im Oktober 2008 ein ganzes Heft dem Thema Improvisation widmet – ohne den Jazz je zu erwähnen?
Um die externe Kommunikation und Interaktion der Jazzmusiker und ihrer Infrastruktur ist es also offensichtlich weniger gut bestellt als um ihre interne. Art Blakey nannte seine bekannteste Band einst nicht umsonst „The Jazz Messengers“. Wir haben nach wie vor eine Message, und wir dürfen nicht aufhören, sie zu kommunizieren!

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2 Kommentare

  1. Lieber Benjamin Schaefer,

    nachdem ich mich anfangs mehrfach nach Ihren Blog-Beiträgen zu Wort gemeldet habe, war ich zwischenzeitlich ein wenig verstummt. Zu sehr schienen mir Ihren Beiträge an meinem Interesse, Jazz ganz allgemein stärker in der Gesellschaft zu verankern, vorbei zu gehen. Vielfach hatte ich den Eindruck, dass sich Ihre Empfehlungen vornehmlich an Kollegen richteten, denen Ratschläge zur Bewältigung des alltäglichen Konkurrenzkampfes untereinander an die Hand gegeben werden sollten.

    Umso mehr freut es mich, dass Sie mit dem elften Beitrag Ihrer Artikelfolge wieder zu einer eher allgemeinen Betrachtungsweise zurückgefunden haben.

    Mehr noch, und es drängt mich geradezu, Ihnen zu danken: Denn selten wurden in einem kurzen, überschaubaren Text so treffend die Gründe dafür zusammengetragen, dass ich mich gerade dieser Musik, dem Jazz in besonderer Weise verbunden fühle.

    Genau die vier von Ihnen genannten Aspekte könnten dazu beitragen, dem Jazz in der kulturellen Debatte unserer Tage eine besondere Bedeutung zukommen zu lassen. Doch freilich müssen wir uns dabei im Klaren darüber sein, dass wir im Konjunktiv formulieren. Es handelt sich derzeit nur um MÖGLICHKEITEN, den Jazz aus der vielstimmigen Kakophonie von Musikrichtungen herauszuheben. So lange er aus gesamtgesellschaftlicher Sicht „ein Nischendasein fristet“, geht es ihm nicht sonderlich gut, und gleichzeitig geht unserer Gesellschaft die heilsame Kraft seines Wesens verloren.

    Jazz ist 2015 in Deutschland definitiv NICHT relevant (was vom Duden mit „erheblich, wichtig“ übersetzt wird). Damit er es wird, empfehle ich weiterhin, auf verstärkten Diskurs zu setzen. Wir dürfen in unserer jazzzentrierten Sicht nicht vergessen, dass es um uns herum noch anderes als den Jazz gibt. Dabei geht es im gelebten Vergleich um Identitäten, die einzelnen Kulturäußerungen zugeschrieben werden. Sie selbst nennen „Rebellion“, „Freiheitsdrang“, „Exzess“ und „Politisierung“ als Beispiele – wobei mich diese Stichworte eher an „The Doors“, Jimi Hendrix oder die „Sex Pistols“ denken lassen.

    Aber genau hier sind wir im Zentrum unseres Themas: Wofür steht der Jazz? Darüber sollten wir einmal reden. Aber laut!

    1. Lieber Herr Dudek,

      vielen Dank für ihr reges Interesse und ihre zahlreichen wertvollen Wortmeldungen!

      Auf die Frage „Wofür steht der Jazz?“ hatte ich versucht, in meinem Artikel möglichst zeitlose Antworten zu finden. Menschen, die sich mit den dazugehörigen Attributen identifizieren könnten, gibt es (hoffentlich) genug in diesem Land. Also: raus mit dem Megafon!

      Da ich sie als ebenso intelligent wie wortgewandt erlebe, wie wäre es mit einem begleitenden Blog zu ihrer Reihe? Oder Einführungen in die Konzerte? Oder – falls das längst passiert – warum weiß ich nichts davon? ;-)

      Beste Grüße aus Köln,
      Benjamin Schaefer

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