Vadim Neselovsky (p) und Arkady Shilkloper (Horn). Foto: Hans Kumpf

Harmonie zwischen einem Russen und einem Ukrainer

Ende Juni nahm der Hornist Arkady Shilkloper (geboren 1956 in Moskau) mit dem Pianisten Vadim Neselovskyi (geboren 1977 in Odessa) in Ludwigsburg die erste gemeinsame CD auf. Das Eigenlabel der dortigen Bauer Studios wird die mit „Krai“ (Land) betitelte Scheibe Anfang Oktober auf den Markt bringen. Hans Kumpf sprach am 25. Juni mit den aus Russland und der Ukraine stammenden Musikern.

Hans Kumpf: Arkady, 1980 habe ich Dich erstmals gehört, als Du im Orchestergraben vom Moskauer Bolschoi-Theater in der Oper „Boris Godunow” von Modest Mussorgski mit Deinem Waldhorn gespielt hast. Gesehen und gesprochen habe ich Dich dann Mitte der 80er Jahre bei der Jazz Jamboree in Warschau. Mittlerweile trafen wir uns bei vielen Festivals – und Du bist sogar nach Deutschland umgezogen. Wann?

Arkady Shilkloper: 2003. Zunächst war ich in Wuppertal, seit November 2011 wohne ich in Berlin.

Hans Kumpf: Wie oft bist Du noch in Russland?

Arkady Shilkloper: Sehr oft! In den letzten beiden Jahren habe ich mehr Konzerte in Russland gehabt. Nicht nur In Moskau, sondern auch in Jekaterinburg, Irkutsk, Ufa, Omsk Nicht nur Jazz, sondern auch mit Kammerorchester. Aber ich hoffe mit der neuen CD mehr Gigs hier zubekommen. Es war nicht einfach. Trotzdem: Es ist interessant, dass ein Russe mit einem Ukrainer ein friedliches Duo machen kann. Da gibt es keine Kontroversen. Die Musiker können besser miteinander als die Politiker.

Weltbürger, Russe, Jude?

Hans Kumpf: Fühlst Du Dich mehr als Russe, Jude oder Weltbürger?

Arkady Shilkloper: Ich bin ein Kosmopolit – total. Ich habe zwar jüdische Wurzeln, aber keine Beziehung zur jüdischen Kultur. Mein Vater war Jude, er ist mit 83 Jahren im Februar 2014 gestorben. Er selbst war nicht jüdisch orientiert – er hat keine Synagoge besucht und nicht religiöse Traditionen gepflegt. Meine Mutter war Russin, und ich hatte von Geburt an immer Umgang mit Russen, auch im Studium. Es ist doch egal: Russe, Jude, Tatare, Mongole… Für mich ist das nicht so wichtig, für mich ist wichtig, dass die Leute richtig leben und etwas machen – in der Kunst, in der Technik, Die Leute sollen Enthusiasmus haben zu leben und zur eigenständigen Entwicklung. Ich verabscheue Snobismus und wenn die Menschen nur auf Geld aus sind, Häuser wollen. Materialismus interessiert mich nicht.

Hans Kumpf: Spielst Du noch mit Misha Alperin, der inzwischen in Oslo wohnt, zusammen?

Arkady Shilkloper: Ja, wir spielen immer noch zusammen. Aber in den letzten Monaten konnten wir wegen einer Erkrankung von ihm nicht zusammen konzertieren. Nach seinem Krankenhausaufenthalt braucht er noch Zeit. Wir können dann wieder kooperieren – im Moscow Art Trio, im Duo oder mit anderen Besetzungen. Misha musste neulich zwei Konzerte in Rumänien absagen, deshalb habe ich dorthin Vadim eingeladen. Dabei war auch Sergej Starostin, der Sänger und Klarinettist. Das waren erfolgreiche Konzerte.

Hans Kumpf: Wir habt Ihr Euch kennen gelernt?

Vadim Neselovskyi: Ich kam nach Deutschland 1995, als ich 17 war. Ich war jüdischer Kontingentflüchtling. Es war eine Emigrationswelle von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Meine Familie hielt sich zunächst in Unna-Massen auf, dann in Dortmund. Ich hatte damals schon zwei Semester Komposition studiert und wollte in Deutschland mit dem Musikstudium weitermachen. Ich wusste schon, dass die Mischung von Jazz und Klassik mein Weg ist. Ich dachte zuvor: Wenn ich in Deutschland bin, kann ich mir alle ECM-Platten anhören. In die Geschäfte gehen – Keith Jarrett! – alles ist voll mit langen Regalen… Ich konnte mir dies gar nicht leisten – es war zu teuer. Ich dachte: ECM – europäische Musiker, amerikanische Musiker…. Und da hat mir jemand erzählt: ‚Vadim, da gibt es zwei Russen, die sind jetzt auch auf ECM, das musst Du Dir anhören. Das sind Misha Alperin und Arkady Shilkloper.’ Die kannte ich damals überhaupt nicht. Dann hat mir jemand die CD auf Musikcassette überspielt. Dies war eine Offenbarung für mich. Da habe ich plötzlich bemerkt: Wir können – auch ohne die amerikanische Kultur ständig nachzumachen – Kreatives schaffen.

Es begann auch mit unseren eigenen Wurzeln aus der ukrainischen Kultur, russischen Kultur, jüdischen Kultur. Ich komme aus Odessa, wo dies alles gemischt ist. Ich bin selbst Jude zu einem Dreiviertel. Das alles kann meine Musik sein, kann meine Sprache sein, und das hatte ich alles draufgehabt, bevor ich Misha und Arkady kennen gelernt habe. In Dortmund hatte ich klassisches Klavier studiert, und im dortigen Club „domicil“ hörte ich das Moscow Art Trio. Nach einem Konzert bin ich zu Arkady gegangen. Er hat eine unglaublich nette Art, mit jedem zu sprechen als ob man auf dem gleichen Niveau ist. Man konnte sich mit ihm unterhalten, ohne Altersunterschied, gleich per Du. Es war für mich schön zu sehen, dass es so große Stars gibt, die so bescheiden sein können und mich als ernsthaften Gesprächspartner akzeptieren. Er hat mich dann zum Bier eingeladen – eine wahrhafte Sternstunde für mich. Wir sind irgendwo Bier trinken gegangen, haben gesprochen über Musik, Konzerte. Das war unsere erste Begegnung.

Viele Jahre später – ich war schon in den USA und hatte mit der eigenen Karriere angefangen – erhielt ich plötzlich von Michail Alperin eine E-Mail: „Hallo Vadim, ich habe vorher Deine Musik im Internet entdeckt. Diese finde ich sehr schön, ich würde Dich gerne kennen lernen“. Ich dachte: Mein Gott, weiß er eigentlich, dass wir uns schon einmal getroffen haben? Eine Woche danach bekam ich eine E-Mail von Arkady Shilkloper: „Hallo Vadim, jemand hat uns angeboten eine Duo-Konzert zu spielen im Rahmen von Jüdischen Kulturtagen in Deutschland“. Beide haben mich in kurzem Abstand unabhängig voneinander kontaktiert – es war irgendwie die Zeit, dass wir wieder zusammenkommen.

Arkady Shilkloper: Ich sagte mir nach dem Auftritt im „domicil“, der junge Mann hat doch interessante Fragen gestellt. Ich bemerkte sofort: Dieser kommt weiter. Er war schon sehr weit fortgeschritten in seiner musikalischen Entwicklung. Misha hat sich dann doch noch erinnert, wer Vadim ist.

Hans Kumpf: Vadim, Du unterrichtest jetzt ja in Boston am Berklee College of Music. Wo ist momentan Dein Hauptwohnsitz?

Vadim Neselovskyi: In New York.

Hans Kumpf: Wie oft bist Du in Deutschland?

Vadim Neselovskyi: Sehr oft. Ich spiele oft in Deutschland, meine Eltern wohnen in Dortmund und meine Freundin wohnt derzeit in Köln. Ich nutze also jede Gelegenheit, nach Deutschland zu kommen. Sie ist auch eine Pianistin, eine sehr gute klassische Pianistin.

Improvisation

Hans Kumpf: Wie wichtig ist für Euch die spontane Improvisation? Ich habe Euch heute ja im Studio gehört. Du, Arkady, hast Dich dabei sehr an Noten und an festgelegte Musik geklammert.

Arkady Shilkloper: Für mich ist die Improvisation nicht so wichtig. Improvisation ist nur ein Teil der Musik. Für mich ist das Schema Thema-Improvisation-Thema zu einfach und zu langweilig. So viele Jazzmusiker machen dies ja. Improvisation ist für mich keine Religion. Die Jazzleute sagen ja, wenn man nicht improvisiert, ist dies kein Jazz. Für mich ist es egal – Jazz, Klassik, Folk oder improvisierte Musik. Wichtig für mich ist der dramaturgische Aufbau und – wenn wir im Duo spielen – der Dialog. Derart musikalische Zwiegespräche sind für mich wichtiger, als Virtuosität zu demonstrieren. Seit vielen Jahren interessiert mich das nicht mehr.

Hans Kumpf: Du hast ein neues Instrument, ein neues Waldhorn ….

Arkady Shilkloper: Eine Premiere, ich habe es direkt ins Studio gebracht.

Hans Kumpf: Was ist das Besondere daran?

Arkady Shilkloper: Es ist gebaut von „Schmid“ – das beste Waldhorn, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Viele gute Hornisten wollen unbedingt dieses Fabrikat haben, und auch ich habe lange darauf gewartet. Es ist sehr teuer, sein Klang ist sehr warm, Die Ton-Stabilität ist sehr gut. Engelbert Schmid war Solohornist im Münchner Rundfunkorchester und kann aus eigener praktischer Erfahrung gute Instrumente entwickeln. Ich bin bis jetzt sehr froh darüber und denke, auch Vadim hat den Unterschied bemerkt, insbesondere bei der Stabilität.

Hans Kumpf: Aber Du hast noch Dein eigenes altes Mundstück?

Arkady Shilkloper: Mein aktuelles Mundstück ist ein Jahr alt, aber es ist auch von Schmid. Ich besitze verschiedene Mundstücke. Es gibt sehr konservative Hornisten oder Trompeter, die meinen, man solle das Mundstück während eines Konzerts oder bei der Studioarbeit nicht wechseln. Für mich ist es umgekehrt. Wenn ich sechs, sieben Stunden bei hoher Konzentration im Studio bin, wechsle ich sehr gerne das Mundstück. Außerdem kann ich ja noch wechseln zwischen Flügelhorn, Alphorn und Waldhorn.

Hans Kumpf: Vadim, wie ist für Dich der große Steinway im Studio?

Vadim Neselovskyi: Ich liebe diesen Flügel, ich bin zum dritten Mal in diesem Studio. Der Toningenieur Phillip Heck macht einen unglaublich guten Klavier-Sound.

Konflikt Ukraine/Russlannd

Hans Kumpf: Was meinst Du, Vadim, zum aktuellen Konflikt in der Ukraine?

Vadim Neselovskyi: Ich bin für den europäischen Weg für die Ukraine, von ganzem Herzen glaube ich, dass alles gut wird. Jetzt gerade war ich in Lwiwalias Lemberg beim größten Jazz Festival der Ukraine. Am 14. Juni war mein Konzert mit meinem New Yorker Trio, das war ein „open air“ auf dem Marktplatz von Lemberg – an diesem Tag wurde das Militärflugzeug abgeschossen, 49 Soldaten wurden getötet, Es war fraglich, ob das Konzert überhaupt stattfinden konnte. Die Veranstalter kamen zu mir und erklärten ‚Vadim, wir werden Dein Konzert nicht canceln, nach Deinem Konzert ist dann Schluss mit dem Festival. Wir werden das jetzt machen. Aber innerhalb von zehn Minuten müsst Ihr das Programm total umstellen. Es soll nämlich ein Requiem für die Gefallenen werden. Könnt Ihr das machen?’

Das war die schwierigste Aufgabe meines Lebens. In zehn Minuten. .. Es war Sommer, Lemberg ist eine unglaublich gemütliche schöne Stadt, guter Laune überall. Wir hatten eigentlich ein Programm vorbereitet, manchmal traurig, aber oft auch lustig. Ich fragte mich, was wir jetzt machen konnten. Ich habe übrigens angefangen mit dem „Russian Song“ („Russkaja Pesnya“), den wir soeben im Studio aufgenommen haben. Ich hatte ursprünglich nicht geplant, diesen zu spielen. Das ist ein Trauerlied. Wir haben fünf, sechs Minuten gespielt – plötzlich leuchteten Kerzen auf. Ich war selbst in einem eigenartigen Zustand. Es berührte mich so sehr. Unheimlich viele Familien sind durch diese Krise zerbrochen. Ehepaare, Freundschaften. Russen gegen Ukrainer – dies konnte man sich nie vorstellen. Sie sprechen fast die gleiche Sprache, sie denken ähnlich, wir essen gleich gut. Der Glauben ist gleich. Das konnte man sich nicht vorstellen. Ich war sehr glücklich, dass, als ich im Februar mit Arkady im Darmstädter Staatstheater gespielt habe, wir uns sofort verstanden haben. Wir sind eng befreundet – wir sind nicht bloß ein Duo. Wir reden sehr viel miteinander. Wir haben oft im gleichen Hotelzimmer übernachtet. Es ist wirklich eine enge Freundschaft geworden. Wir sind uns einig darüber, dass sich auf keinen Fall die Gewalt fortsetzen darf. Auf keinen Fall darf ein Staat einem anderen Land abnehmen – das geht einfach nicht. Da sind wir uns ganz einig.

Arkady Shilkloper: Ukraine – ich liebe dieses Land, ich liebe diese Leute. Die Musiker haben eine fantastische Qualität So viele gute Musiker gibt es dort. Die berühmtesten russischen – sowjetischen kann man sagen – Sänger kommen aus der Ukraine: Anna Netrebko, Ivan Kozlovsky, Evgeniy Nesterenko, Juri Gulyaev…

Ich habe im Bolschoi-Theater gespielt, fast die Hälfte der Hornisten kam aus der Ukraine. Es ist so schade, was da passiert. Wir haben auch einen Freund, der ist Jazz-Moderator, der größte ukrainische CD-Sammler, Alex Cohan, auch jüdischer Abstammung. Ich habe mit ihm gesprochen über die Situation. Ich habe ihn gefragt, was passiert in der Ukraine? Er sagte: ‚Arkady, das verstehe ich auch nicht!’.

Vadim Neselovskyi: Alle Veranstalter vom Festival in Lemberg waren auf dem Maidan in Kiew. Sie haben bei den Protesten teilgenommen. Die Leute kamen aus allen Städten des Landes.

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